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Frankfurter Anthologie : Anne Dorn: „Mein unabweisbarer Bräutigam“

  • -Aktualisiert am

Bild: Dittrich Verlag

Der ständige Begleiter in diesem Gedicht ist der Knochenmann. Ist die Gelassenheit der Autorin, die mit 86 Jahren ihren ersten Gedichtband vorlegte, wirklich so stabil, wie es zunächst scheint?

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          Wird ein Mensch geboren, kommt auch sein Tod auf die Welt, wächst mit ihm, wartet. Geduldig hockt er in der dunklen Kammer, in die der Alltag ihn verdrängt, um irgendwann, zu der von ihm festgesetzten, hoffentlich fernen Stunde, ans Licht zu treten und zu triumphieren.

          Mehr als diese kargen Fakten wissen wir nicht. „Wie ihn beschreiben?“, fragt das Gedicht, und weiter: „Wie buchstabieren? / Sich ein Bild von ihm machen?“, obwohl der Titel bereits eine Antwort gegeben und auf ein überliefertes Bild verwiesen hat. Von einem Bräutigam ist die Rede, und da er „unabweisbar“ ist, handelt es sich wohl um den Knochenmann, der die kalte Hand auf die Schulter der jungen Braut legt, um sie in sein Reich zu entführen.

          Wir sind, weil er ist

          Diese Szene ist als Topos nur allzu bekannt. Anne Dorns Gedicht wählt einen anderen Pfad. Es klagt nicht über den plötzlichen Zugriff, die Ohnmacht, die nutzlose Gegenwehr, sondern schildert die hartnäckige Gegenwart, in der der Tod jedem Lebenden gleicherweise nah und fremd bleibt, bis er ihn vernichtet. Anfangs kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher wirft er seinen Schatten über den Atmenden und verlässt ihn keinen Augenblick. Als keusche Brautleute ruhen Mensch und Tod auf der geteilten Bettstatt, wohl wissend, dass schon ein Kuss die unumkehrbare Verwandlung bedeuten würde.

          Dennoch, und das ist das Erstaunliche, bleibt der Ton des Gedichts gelassen. Weder Jammer noch Zuspruch drückt sich hier aus, sondern ein sachliches „Erkenne die Lage!“, wie Benn es forderte. Braut und Bräutigam brauchen einander, um zu begreifen, wer sie sind. Sie halten sich im Gleichgewicht: „Ich bin, weil er ist“. Das Bewusstsein der Sterblichkeit schärft die Selbsterkenntnis, intensiviert die Erfahrung und macht sie kostbar. Gegen den Staub von Jahrtausenden hat sich diese Weisheit behauptet, brav wird sie von jedem Einzelnen gelernt und zähneknirschend anerkannt. Denn da der Tod keine Revolte zulässt, soll er wenigstens eine Art Sinn besitzen, einen Nutzen.

          Je älter der Mensch, desto mehr begreift er sich vom Ende her, wägt das Gewesene gegen das karger werdende Mögliche ab und wäre doch diese Gedanken gern los. Längst ist ihm der Tod nicht mehr das schillernde Faszinosum, das die T-Shirts der Jugend schmückt und die Kunst befeuert, ob als mittelalterlicher Totentanz, „Tristan“-Rausch oder Heavy-Metal-Dröhnen. Der Jahr um Jahr ertragene Partner, dessen immer deutlicheres Knochenklappern das innere Ohr belästigt, wirkt am Ende glanzlos und trist. Und die stolze These, dass der Tod seinerseits auf das Lebendige angewiesen ist, bietet, bei Licht besehen, keine Genugtuung.

          Anne Dorn, 1925 in Wachau geboren und vor einem Jahr in Köln gestorben, hat Filme gedreht, Romane geschrieben und mit 86 Jahren ihren ersten Gedichtband veröffentlicht, kurz darauf den zweiten, aus dem dieses Gedicht stammt. Drei Fragen, sieben Feststellungen, schlicht und ohne Auflehnung aus der Erfahrung des Alters gesprochen. Ein tapferes Ich rekapituliert sein Leben und zeichnet die Grundbewegung nach, die es genommen hat. Der Tod erscheint als der symbiotische Gefährte, der dem Menschen zu einer seltsamen Doppelexistenz verhilft. „Er“ und „Ich“ wechseln sich ab in nüchterner Antithetik, rational und frei von Panik. Aber der letzte Vers mit der kompakten Betonung auf „Paar“, so freundlich-friedlich beim ersten Lesen, weckt beim zweiten dann doch das Grauen.

          Anne Dorn: „Mein unabweisbarer Bräutigam“

          Sein Werben begann am Tag meiner Geburt.
          Wie ihn beschreiben? Wie buchstabieren?
          Sich ein Bild von ihm machen?
          Er ist der Fremde, den ich nicht kenne.
          Er spricht eine andere Sprache, ich die meine.
          Ich teile mein Lager mit ihm,
          er teilt es mit mir.
          Er lockt mein Leben ans Licht,
          damit sein Schatten leuchtet.
          Ich bin, weil er ist.
          In Treue sind wir ein Paar.

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