Frankfurter Anthologie : Max Dietrich Kley: „Der Gast“
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Bild: Wolfgang Eilmes
Der Autor dieses im Selbstverlag erschienenen Gedichts ist ein erfolgreicher Manager. Seine Verse sind traditionalistisch, aber bewegend. Werden Dilettanten in der Lyrik unterschätzt?
Mit dem Gedicht „Der Gast“ endet ein schmaler Gedichtband, der Ende des vergangenen Jahres als Privatdruck erschien. Der Verfasser der Gedichte ist kein professioneller Autor. Max Dietrich Kley, 1940 geboren, war lange in führenden Positionen der Wirtschaft tätig. Doch schon in jungen Jahren begann er, seine Lebenserfahrungen und Zeitbeobachtungen in lyrischer Form zu reflektieren. Vierundvierzig der seither entstandenen Gedichte hat er nun unter dem Titel „Gedichte 1955 bis 2015“ publiziert. Sie weisen ihren Verfasser nicht nur als einen nachdenklichen Kopf aus, sondern auch als einen Homme de Lettres, der seine Vorstellungen von Lyrik an den Romantikern und Rilke, vor allem aber an Benn geschult hat. Man könnte ihn auch, wenn das Wort nicht abwertend verstanden würde, als einen „Dilettanten“ bezeichnen: als jemanden, der die Kunst nicht professionell und auf der Basis artistischer Konditionierung ausübt, sondern gelegentlich aus Liebhaberei, angeborener Neigung und Begabung.
„Hervorbringungen“ (um mit Benn zu sprechen) solcher „Amateure“ (um ein sportliches Synonym für „Dilettanten“ zu verwenden) haben es schwer, Wahrnehmung und Anerkennung zu finden. Das hat zwei Gründe. Zum einen fehlt bei ihnen die sukzessiv sich aufbauende Präsenz im Literaturbetrieb, die zwar nicht für jedes Werk Anerkennung garantiert, aber allemal für die Aufmerksamkeit der Literaturvermittler sorgt. Zum andern bewegen sich diese Autoren poetisch in der Regel auf gut bekannten Pfaden, die nicht eben mit stilistischen oder formalen Überraschungen aufwarten. Das Gedicht „Der Gast“ ist ein gutes Beispiel dafür, auch wenn der Strophenbau mit dem Reimschema a b b a b in Horst J. Franks „Handbuch der deutschen Strophenformen“ nicht verzeichnet ist. Die primäre Anmutung dieses Gedichts ist traditionalistisch.
Wie ein Dieb in der Nacht
Aber wäre dies ein Grund, ihm die Anerkennung zu versagen? Im Gegenteil! Es ist ein Beweis dafür, dass die traditionalistische lyrische Schreibweise mit gleichmäßig wirkendem, aber nicht pedantischem Strophenbau und Reimbindung immer noch nutzbar ist. Und das hier ist mehr: „Der Gast“ ist ein bewegendes Gedicht von geradezu bestürzender Schönheit.
Denn sein Gegenstand ist nichts anderes als die nächtlich in gestalthafter Deutlichkeit sich aufdrängende Wahrnehmung der Vergänglichkeit, mit der wir uns nolens volens abzufinden haben, oder krasser gesagt: der näherrückende Tod, von dem der Sprechende „in dieser Nacht“, welche der Anfang des Gedichts noch einmal heraufbeschwört, eine erste Ahnung erhielt. Seine Nähe wurde in dieser mondhellen Nacht in einem traumwachen Vorgang spürbar und hörbar, doch der Atem des Lebens – der „Odem“, möchte man mit einem biblischen Wort sagen – hielt ihn noch davon ab, die Klinke niederzudrücken und in die Kammer des Lebens einzutreten. Mit einem Räuspern, aus dem man Drohung so gut wie Resignation heraushören kann, verlässt er das Haus. Der von seiner Annäherung Berührte aber steht auf, blickt ihm nach, meint ihn „rufen“ (nicht etwa nur anrufen) zu wollen – und vermag es nicht. Das eindeutige Wollen und sichere Handeln ist ihm gegenüber diesem Besucher genommen. Und so wird dies, wie der Sprechende vermutet, auch bleiben. Wer letzten Endes das „Tritt ein“ sagen wird, die Stimme der eigenen Bereitschaft oder eine übermächtige Stimme der Nötigung durch was auch immer – wer weiß das?
Das Thema dieses Gedichts ist also die Annäherung des Todes, der mit Gewissheit früher oder später eintreten wird. Für gewöhnlich vermeiden wir es, dem Gedanken daran Raum zu geben. Dieses Gedicht aber lädt uns dazu ein, unserer Vergänglichkeit und dem Tod ins Auge zu sehen, und erleichtert dies durch mehrere Mittel auf verschiedenen Ebenen: Es ist ein rücksichtsvoller Gast, den das Gedicht ins Haus des Bewusstseins führt. Er will nichts übereilen, sondern seine Zeit abwarten. Dem korrespondiert der sprachliche Duktus, der keinerlei Aufregung signalisiert, gelassen und zugleich gefasst wirkt und erst gegen Ende einen Zug ins Pathetische erhält. Und wenn dieser Gast wiederkommt, so wird es im verklärenden „Sternenschein“ sein.
Die kosmische Harmonie, die sich in diesen Umständen zeigt und an die Aufgehobenheitslyrik der frommen Romantik erinnert, wird durch die Reimtechnik unterstützt. Während die Abfolge der Reime in den beiden ersten Strophen durch den überzählig wirkenden fünften Vers mit Wechselreim einen dynamischen Charakter hat und die Prozesshaftigkeit des Geschehens unterstreicht, bilden in der dritten und letzten Strophe die abschließenden Verse vier und fünf einen gänzlich rein klingenden Paarreim und setzen damit einen harmonischen Schlussakkord. Die Übereinstimmung des Lebens mit dem Tod wirkt vollkommen, und wir hoffen, dass es so sein möge – und fragen nicht, wie es wäre, wenn jener Gast nicht willens wäre, „nichts aber auch nichts zu übereilen“.
Max Dietrich Kley: „Der Gast“
In dieser Nacht ist jemand durchs Haus gegangen,
stand an meiner Tür, die Hand auf die Klinke gelegt,
stand leise und schweigend, nichts hat sich bewegt,
meinem Atem lauschend, in Gedanken gefangen,
in der Stille der Nacht, in der nichts sich mehr regt.
Stieg dann die Treppe hinab auf knarrenden Stufen,
hat sich geräuspert, dann fiel die Haustür leise ins Schloss,
in den Garten blickend, in den sich das Mondlicht ergoss,
stand ich am Fenster, als wollt ich ihn rufen,
mit einer Stimme, die sich mir selber verschloss.
Wird wohl jetzt öfter und öfter kommen im Sternenschein,
stehend an der Tür schweigend verweilen,
nichts aber auch nichts zu übereilen,
wird es dann meine oder eine ganz große Stimme sein,
die da sagt in der Stille der Nacht: Tritt ein.