Frankfurter Anthologie : Ilse Aichinger: „Heu“
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Ilse Aichinger, die in der kommenden Woche 95 Jahre alt wird, liebt die Vorsilbe „ver-“. In ihrem Gedicht übers „Heu“, eine Hymne auf die Kargheit, spielt sie eine besondere Rolle.
Ein Verstummen, Verschwinden, konnte man meinen, wenn man in den neunziger Jahren an Ilse Aichinger dachte, damals bereits eine Klassikerin der Nachkriegsliteratur: über Jahrzehnte keine Veröffentlichungen, doch dann, mit den Skizzen in „Film und Verhängnis“ im Jahr 2001 oder den „Subtexten“ von 2006 trat sie mit überraschenden Versuchen in einer neuen Richtung wieder in Erscheinung.
Ilse Aichinger liebt die Vorsilbe „ver-“, wie sie 1982 erläutert hat: „Mich hat schon als Kind das Verschwinden interessiert, einfach, dass etwas verschwinden kann. Das ging so weit, dass ich mir ein Buch kaufte – die Geschichte der Vorsilbe ‚ver‘, weil es eine ,Verschwinden-Silbe‘ ist.“
Von der Leichtigkeit, sich für immer zu verlieren
Am 1. November feiert sie, wie auch ihre Zwillingsschwester Helga Michie, die in London lebt, ihren fünfundneunzigsten Geburtstag. Helga konnte, nachdem der Zwillingsforscher und spätere KZ-Arzt Josef Mengele bereits einen Blick auf die beiden Mädchen geworfen hatte, mit einem Kindertransport nach England entkommen. Ilse blieb bei ihrer jüdischen Mutter, die schon lange von ihrem „arischen“ Mann geschieden und nur durch ihre Tochter vor der Deportation geschützt war; sie überlebten in einer kleinen Wohnung in unmittelbarer Nähe des Gestapo-Hauptquartiers. Die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 nach Minsk deportiert und ermordet. Als die offenen Lastwagen eine Brücke passierten, konnte Ilse Aichinger noch das Kopftuch der Großmutter entdecken – während für die Wiener Bürger um sie herum das Ganze eher ein Spektakel darzustellen schien.
Mit diesem autobiographischen Tiefenraum bekommt das Leitmotiv des „Verschwindens“ in Aichingers Werk, bekommen die Verben „verbrennen“ und „sich verlieren“ am Anfang des Gedichts „Heu“ noch einmal ganz andere Konnotationen. Das Gedicht entstand im Jahr 1988, als Ilse Aichinger von Frankfurt, wo sie als Lektorin im S.Fischer Verlag gearbeitet hatte, nach Wien zurückzog, wurde zuerst in einem Literaturalmanach der Stadt Salzburg abgedruckt und dann in die zweite Auflage ihres schmalen, aber gewichtigen Auswahlbandes „Verschenkter Rat“ aufgenommen.
Heu ist Gras, das verblüht, verwelkt, ist Leben, das vergeht, wie die Sprache vergeht, verstummt. Diese wird stumm, „ununterbrochen stumm, weil, was sich ereignet, immer vergeht“, so Ilse Aichinger 1975. „Und da sich die Sprache ununterbrochen ereignet, viel mehr als die Musik, als die Malerei, als Mitteilung ereignet, als Werkzeug des täglichen Lebens, vergeht sie viel rascher.“
Durch das Schweigen hindurch sucht die Dichterin Ilse Aichinger nach einer neuen „Möglichkeit der Mitteilung“; mit diesem Impetus, aber auf ihre eigene leise Art, Hans Magnus Enzensberger oder auch Günter Eich ähnlich, mit dem sie verheiratet war. Der Zweite Weltkrieg war für Aichinger – dies betont sie in Interviews gerne, wenn das Gegenüber mit Betroffenheitsfloskeln kommt – eine „glückliche Zeit“ in dem Sinn, dass alles „deutlich“ gewesen sei. Im Unterschied zu den achtziger Jahren, die sie für „unscharf“ hält. Immer geht es ihr um Genauigkeit, um Klärung, auch wenn die Texte alles andere als eindeutig sind. Ihre Gedichte bieten einen „verschenkten Rat“: unprätentiös mitgeteilt, aber nicht praktisch anwendbar.
Nicht nur das Wort „Stoppeln“ erinnert in „Heu“ an Clemens Brentanos poetologisches Gedicht „Was reif in diesen Zeilen steht“: „Und ist das Feld einst abgemäht, / Die Armut durch die Stoppeln geht, / Sucht Ähren, die geblieben...“. Das Wort „Heu“ wird durch die Wiederholung – vom Titel an gleich dreifach – fast verfremdet, aber das Gedicht sucht nicht das Sprachspiel, es bleibt in einer kohärenten Bildwelt. Eine Buchstabenfügung, drei Buchstaben im Deutschen, eine Konvention, „diese Richtung, / aber keine andere.“ Sprache ist für Aichinger auch eine „Spur“. Und „Heu“ und „Schnee“ gehören für sie zu den besonderen Wörtern. Mit allen unheimlichen Beiklängen wird hier eine Hymne auf das Heu (unscheinbar, doch nahrhaft) entwickelt, eine Beschwörung nicht der Üppigkeit, sondern der Kargheit, eine Anrufung dessen, was verlebt ist, sich auf dem abgeernteten Feld verliert, das vom Schnee bedeckt sein wird, der kommt, während vom Himmel so oder so nichts zu erwarten ist: kein Zeichen, kein „Trost“. Dafür gibt es den „Jubel“ auf offenem Feld und einen Vers, der so sprachmagisch ist, dass er die Härte der Aussage nahezu aufhebt: „Heu, Schnee und Ende“.
Ilse Aichinger: „Heu“
Heu,
Heu in den Kinderscheuern,
wo zu verbrennen
oder sich für immer zu verlieren
gleich leicht ist.
Gebündeltes Heu,
Heu auf den Feldern,
Heu als die bei der tödlichen Vielfalt
der Möglichkeiten gerade so
zueinander gegebenen Buchstaben,
diese Richtung,
aber keine andere.
Heu, das im Wind fliegt,
auf den dürren Stoppeln bleibt,
für immer von den anderen getrennt,
das den Schnee erwartet,
der ihm den Himmel nehmen wird,
sein unbewegtes, mattes Ebenbild.
Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt,
aber den Jubel,
Heu, Schnee und Ende.