https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter-anthologie-hans-christoph-buch-ueber-walter-mehring-18792082.html

Frankfurter Anthologie : Walter Mehring: „Dreizehnter und letzter Brief aus der Mitternacht“

  • -Aktualisiert am

Bild: Picture Alliance

Intime Beichte, erotische Konfession und politische Anklage zugleich: ein Gedicht im Geist von Heine und Villon über Nöte und Leidenschaften der ins Exil Getriebenen.

          2 Min.

          Dies ist eins der letzten Gedichte von Walter Mehring, dessen raffinierte Verskunst neben der von Benn und Brecht bestehen kann: Beide kannten und schätzten ihn und kupferten – wie er bei ihnen – von ihm ab. Dabei ist Mehring mehr als ein Kabarett-Autor der Zwanzigerjahre, als Dadaisten und Expressionisten sich gegenseitig überboten mit Bürgerschreck-Posen, tolldreistem Nonsens und Blasphemie. Wie Heine war Mehring ein Erlebnisdichter, der alles, was ihm widerfuhr, in Verse verwandelte, sodass Kunst und Leben, Poesie und Politik im Nachhinein schwer voneinander zu trennen sind. So auch hier.

          Was ihn mit Heine verband, war die jüdische Herkunft, seine Hassliebe zu Deutschland und die Liebe zu Frankreich, die im von François Villon entlehnten Motto des Gedichts zum Ausdruck kommt – sein Name kehrt in den kursiv gesetzten Anfangsbuchstaben der Schlussstrophe wieder. „Strenge verjagte den armen Wicht / und trat ihm barbarisch auf Hintern und Bauch / Appell und Rekurse – was half es ihm auch? / Gib ihm, o Herr, das ewige Licht.“ So hat K. L. Ammer das Zitat übersetzt, aus dessen Villon-Übertragung sich Brecht in der Dreigroschenoper bediente mit Hinweis auf seine „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“. Der Kritiker Alfred Kerr war darüber „not amused“.

          Staatenlos im Nirgendwo

          Unabhängig davon war die Berufung auf Villon fast ein Gemeinplatz unter Literaten der Weimarer Republik, die sich, obwohl aus dem Bürgertum stammend, mit Zuhältern, Huren und Gangstern identifizierten – Stichwort „Dreigroschenoper“. Das gilt auch für Mehring, der schon in den Zwanzigerjahren in Paris gelebt hatte, bevor das Naziregime, dem er beim Reichstagsbrand mit knapper Not entkam, ihn wieder dorthin vertrieb. Nach Zwischenspielen in Wien und qualvoller Odyssee durch französische Internierungslager gelangte er mithilfe von Varian Frys Rettungskomitee über Marseille nach New York, wo sein Freund George Grosz sich schon vor 1933 niedergelassen hatte.

          Auffällig ist, dass dem Flucht und Vertreibung schildernden Zyklus, den das eingangs zitierte Gedicht abschließt, ein erotischer Subtext eingeschrieben ist, der das Emigrantenschicksal individualisiert und zugleich ins Allgemeingültige erhebt. Die Politik wird sexualisiert, die Sexualität politisiert wie im „Liebeslied an La Martinique“, wo Mehring vor der Weiterfahrt nach New York Station machte, widerwillig geduldet von den Behörden der Vichy-Regierung: „Fünf Nächte schlief ich, süße Martinique, / in dem Bordell zur hohen Politik“. Den Liebesschwüren zum Trotz aber bleibt die nach New York vorausgeeilte Lebensgefährtin Hertha Pauli seltsam konturlos, als sei sie nur eine Projektionsfläche für poetischen Weltschmerz und Selbstmitleid.

          Pyramus und Thisbe, Hero und Leander – schon in der klassischen Antike reimte Liebe sich auf Tod. Diese Tradition schreibt Walter Mehring in seinen Briefgedichten fort, die, von schriller Modernität, ganz unklassisch daherkommen, intime Beichte, erotische Konfession und politische Anklage zugleich. Kein Wunder, dass 1953, als Mehring nach Europa zurückkehrte, das die NS-Vergangenheit verdrängende Publikum wenig anfangen konnte mit seinen Texten. Von Rowohlt neu aufgelegt, lagen die Gedichtbände wie Blei in den Regalen, während das wohlfeile Gerede von den „Logenplätzen des Exils“ vielen Deutschen aus dem Herzen sprach, als sei das Los der Emigranten eine Quantité négligeable im Vergleich zum Schrecken des Krieges. Walter Mehring konnte nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen und starb, verbittert und nahezu vergessen, 1981 in Zürich.

          Walter Mehring: „Dreizehnter und letzter Brief aus der Mitternacht“

          Rigueur le transmit en exil

          Et lui frappa au cul la pelle

          Non obstant qu’il: „j’en appelle“

          Qui n’est pas terme trop subtil

          Repos éternel donné à cil!

          François de Montcorbier (dit: VILLON)  

          Epitaph et Rondeau-

          1.

          Aus Nächten, die ich nie beschrieb

          Nicht schlief, vertrieb Mich-Selbst mein Trieb

          So unbeschreiblich – so obszön

          So ewig weiblich        qualenschön

          So infernal –

                                    es ließ dein Schoß

          Wie das Exil mich nicht mehr los

                   So habe ich Dich mir erfunden

                   Dich nie verloren – auch nicht gefunden

          2.

          Nachschrift

          Heut – hier im Nachtexil

          Schambloß     von Sinnen     ohne Ziel

          Auf meiner Vor-den-Massen-Flucht

          Verkommen     verpöbelt     und verrucht

          Aus der Ekstase ins Allein

          – Unzüchtig! Süchtig! Dieses Schwein! –

          So will ich bleiben leiden lieben

          Erlöst erst, wenn ich ausgeschrieben!

          3.

          Vers Pathos Fluch Pamphlet Gebet

          In dem der Autor sich verrät

          Lästernd verlästert aufgehetzt

          Lügnern, Verleumdern ausgesetzt

          Ohnmächtig sprachlos

          (nicht subtil)

          Nicht einmal tauglich zum Exil

             MERCI  –  zuhöchst den Polizeien

             LE PAUVRE VILLON

                                 mag

                                           allen uns

                                                     verzeihen!

          Weitere Themen

          Die Sprache seines Körpers

          FAZ Plus Artikel: Pierfrancesco Favino : Die Sprache seines Körpers

          Er war Mafioso und Polizist, Bettino Craxi und Che Guevara, und wenn er wollte, wäre er auch ein Elefant – Pierfrancesco Favino ist einer der Großen des italienischen Kinos. Eine Begegnung mit dem Schauspieler in Rom

          Sie hat innerlich geglüht

          Margit Carstensen gestorben : Sie hat innerlich geglüht

          Fassbinders Film „Martha“ hat sie berühmt gemacht: Auch danach spielte sie oft rätselhafte Frauen, die in Machtspielen und Hysterie gefangen waren. Jetzt ist Margit Carstensen gestorben.

          Verlag trennt sich von Till Lindemann

          Wegen Porno-Vorwurf : Verlag trennt sich von Till Lindemann

          Der Verlag Kiepenheuer & Witsch beendet die Zusammenarbeit mit dem Autor Till Lindemann. Der Rammstein-Sänger habe eines seiner bei KiWi veröffentlichten Bücher gezielt in einem Porno-Video eingesetzt.

          Topmeldungen

          Delegierte auf dem Landesparteitag der AfD Sachsen-Anhalt

          Gleichauf mit der SPD : Wundert sich jemand über den Erfolg der AfD?

          Die SPD kann in der Ampelkoalition kaum Akzente setzen. Der Kanzler fällt als Zugpferd aus. Die CDU profitiert nur wenig. Für die Themen, die Protestwähler in die Arme der AfD treiben, fällt ihnen allen nicht viel ein.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.