Frankfurter Anthologie : Walter Mehring: „Dreizehnter und letzter Brief aus der Mitternacht“
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Intime Beichte, erotische Konfession und politische Anklage zugleich: ein Gedicht im Geist von Heine und Villon über Nöte und Leidenschaften der ins Exil Getriebenen.
Dies ist eins der letzten Gedichte von Walter Mehring, dessen raffinierte Verskunst neben der von Benn und Brecht bestehen kann: Beide kannten und schätzten ihn und kupferten – wie er bei ihnen – von ihm ab. Dabei ist Mehring mehr als ein Kabarett-Autor der Zwanzigerjahre, als Dadaisten und Expressionisten sich gegenseitig überboten mit Bürgerschreck-Posen, tolldreistem Nonsens und Blasphemie. Wie Heine war Mehring ein Erlebnisdichter, der alles, was ihm widerfuhr, in Verse verwandelte, sodass Kunst und Leben, Poesie und Politik im Nachhinein schwer voneinander zu trennen sind. So auch hier.
Was ihn mit Heine verband, war die jüdische Herkunft, seine Hassliebe zu Deutschland und die Liebe zu Frankreich, die im von François Villon entlehnten Motto des Gedichts zum Ausdruck kommt – sein Name kehrt in den kursiv gesetzten Anfangsbuchstaben der Schlussstrophe wieder. „Strenge verjagte den armen Wicht / und trat ihm barbarisch auf Hintern und Bauch / Appell und Rekurse – was half es ihm auch? / Gib ihm, o Herr, das ewige Licht.“ So hat K. L. Ammer das Zitat übersetzt, aus dessen Villon-Übertragung sich Brecht in der Dreigroschenoper bediente mit Hinweis auf seine „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“. Der Kritiker Alfred Kerr war darüber „not amused“.
Staatenlos im Nirgendwo
Unabhängig davon war die Berufung auf Villon fast ein Gemeinplatz unter Literaten der Weimarer Republik, die sich, obwohl aus dem Bürgertum stammend, mit Zuhältern, Huren und Gangstern identifizierten – Stichwort „Dreigroschenoper“. Das gilt auch für Mehring, der schon in den Zwanzigerjahren in Paris gelebt hatte, bevor das Naziregime, dem er beim Reichstagsbrand mit knapper Not entkam, ihn wieder dorthin vertrieb. Nach Zwischenspielen in Wien und qualvoller Odyssee durch französische Internierungslager gelangte er mithilfe von Varian Frys Rettungskomitee über Marseille nach New York, wo sein Freund George Grosz sich schon vor 1933 niedergelassen hatte.
Auffällig ist, dass dem Flucht und Vertreibung schildernden Zyklus, den das eingangs zitierte Gedicht abschließt, ein erotischer Subtext eingeschrieben ist, der das Emigrantenschicksal individualisiert und zugleich ins Allgemeingültige erhebt. Die Politik wird sexualisiert, die Sexualität politisiert wie im „Liebeslied an La Martinique“, wo Mehring vor der Weiterfahrt nach New York Station machte, widerwillig geduldet von den Behörden der Vichy-Regierung: „Fünf Nächte schlief ich, süße Martinique, / in dem Bordell zur hohen Politik“. Den Liebesschwüren zum Trotz aber bleibt die nach New York vorausgeeilte Lebensgefährtin Hertha Pauli seltsam konturlos, als sei sie nur eine Projektionsfläche für poetischen Weltschmerz und Selbstmitleid.
Pyramus und Thisbe, Hero und Leander – schon in der klassischen Antike reimte Liebe sich auf Tod. Diese Tradition schreibt Walter Mehring in seinen Briefgedichten fort, die, von schriller Modernität, ganz unklassisch daherkommen, intime Beichte, erotische Konfession und politische Anklage zugleich. Kein Wunder, dass 1953, als Mehring nach Europa zurückkehrte, das die NS-Vergangenheit verdrängende Publikum wenig anfangen konnte mit seinen Texten. Von Rowohlt neu aufgelegt, lagen die Gedichtbände wie Blei in den Regalen, während das wohlfeile Gerede von den „Logenplätzen des Exils“ vielen Deutschen aus dem Herzen sprach, als sei das Los der Emigranten eine Quantité négligeable im Vergleich zum Schrecken des Krieges. Walter Mehring konnte nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen und starb, verbittert und nahezu vergessen, 1981 in Zürich.
Walter Mehring: „Dreizehnter und letzter Brief aus der Mitternacht“
Rigueur le transmit en exil
Et lui frappa au cul la pelle
Non obstant qu’il: „j’en appelle“
Qui n’est pas terme trop subtil
Repos éternel donné à cil!
François de Montcorbier (dit: VILLON)
Epitaph et Rondeau-
1.
Aus Nächten, die ich nie beschrieb
Nicht schlief, vertrieb Mich-Selbst mein Trieb
So unbeschreiblich – so obszön
So ewig weiblich qualenschön
So infernal –
es ließ dein Schoß
Wie das Exil mich nicht mehr los
So habe ich Dich mir erfunden
Dich nie verloren – auch nicht gefunden
2.
Nachschrift
Heut – hier im Nachtexil
Schambloß von Sinnen ohne Ziel
Auf meiner Vor-den-Massen-Flucht
Verkommen verpöbelt und verrucht
Aus der Ekstase ins Allein
– Unzüchtig! Süchtig! Dieses Schwein! –
So will ich bleiben leiden lieben
Erlöst erst, wenn ich ausgeschrieben!
3.
Vers Pathos Fluch Pamphlet Gebet
In dem der Autor sich verrät
Lästernd verlästert aufgehetzt
Lügnern, Verleumdern ausgesetzt
Ohnmächtig sprachlos
(nicht subtil)
Nicht einmal tauglich zum Exil
MERCI – zuhöchst den Polizeien
LE PAUVRE VILLON
mag
allen uns
verzeihen!