Frankfurter Anthologie : Pierre Reverdy: „Gedächtnis“
- -Aktualisiert am
Bild: ullstein bild
Er wurde mit Picasso verglichen und beeinflusste viele Dichter-Generationen. Dieses Gedicht ist ein Musterbeispiel für seine kubistische Poesie. Es ist an der Zeit, Pierre Reverdy neu zu entdecken.
Paris 1918: Der Erste Weltkrieg mit seinen materiellen und seelischen Auszehrungen lähmt die vormals junge Kunst und Poesie, deren Wortführer Guillaume Apollinaire am Tag des Waffenstillstands den Folgen der Spanischen Grippe erliegt. Die Generation, die fünf, sechs Jahre zuvor die größte Furore seit Baudelaire und den Impressionisten gemacht und, sich auf Cézanne und den Zöllner Rousseau berufend, alle akademischen Begriffe von Kunst und Poesie zugunsten polyperspektivischer Wahrnehmungen und Tagtraumwelten über den Haufen geworfen hatte, ist dahingeschmolzen, erwachsen und ernst geworden – doch keineswegs verstummt.
Es mag nicht zuletzt dem malerischen Genie Pablo Picassos, sich permanent neu zu erfinden und aus einem schier unerschöpflichen Reservoir von Einfällen zu schöpfen, zu verdanken sein, dass Paris nie an seinem Status als Metropole des „Neuen Geistes“ – des „Esprit Nouveau“, von welchem Apollinaire mit Blick auf seine kubistische Generation gesprochen hatte – zu zweifeln brauchte. Die ihren Kinderschuhen entwachsenen Surrealisten würden von sich reden machen und sich wie die Manen Apollinaires gebärden, entlehnten sie den Begriff „Surrealismus“ doch einer Wortschöpfung des Meisters, während Tristan Tzara, Man Ray und andere im Kielwasser des Dadaismus jener Welt abgedroschener Phrasen und abgegriffener Bilder eine eigene Sprache und Bildlichkeit entgegensetzten, die das Phantastische aus dem Banalen brach. Es brodelte schon wieder an der Seine und wenige Monate sollten vergehen, bis Paris wieder zu jenem Magneten wurde, dem das kreative Potential des Globus zustrebte.
Wer aber sollte die Leerstelle besetzen, die Apollinaire hinterlassen hatte, die Autorität des von allen Strömungen anerkannten und die Stichworte liefernden, für sich stehenden Dichters? Pierre Reverdy hat sich zeitlebens dagegen gesträubt, mit dem galanten, maskenreichen, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Hauptstädter verglichen zu werden. Der schweigsame, großen Gesten abgeneigte Südfranzose stand nicht gern in der Öffentlichkeit, wurde dafür wegen seiner Gedichte und seiner Überlegungen zur Natur des poetischen Bilds unter den Kollegen umso mehr verehrt und gern mit Picasso verglichen – eine Art „poet’s poet“ des surrealistischen Paris.
Picassos Schatten
Seine 1918 erschienene Sammlung „Les ardoises du toit“ („Die Dachschiefer“) begründete seinen Ruhm. Das darin enthaltene „Mémoire“ ist ein Paradebeispiel seiner Kunst, scheinbar unverbundene Wahrnehmungssplitter, Assoziationen und Reflexe wie in einem kubistischen Gemälde zusammenzubringen. Nicht Reime und Versformen sind strukturbestimmend, sondern die einzelnen Zeilen, verschieden „tief“ in den Raum der weißen Seite hinein versenkt, so dass jene dissoziierte Perspektive, die von den unvermittelten Sätzen und Satzpartikeln beschworen wird, im Schriftbild ihre Entsprechung findet. Wovon da die Rede ist, muss man sich selber zusammenreimen, und es verändert sich mit jeder Zeile, die der Dichter – wie der Maler einen Pinselstrich dem Bild – seiner Vision scheinbar gewöhnlicher Licht- und Schatteneffekte hinzufügt.