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Frankfurter Anthologie : Elizabeth Barrett Browning: „Sonette aus dem Portugiesischen“

  • -Aktualisiert am

Bild: Picture-Alliance

Der Titel dieser Liebesgedichte ist eine Lüge. Sie stammen nicht aus Südeuropa sondern von einer „alten Jungfrau“ im sittenstrengen England. Und erzählen von einer einzigartigen Liebesgeschichte.

          2 Min.

          Die beliebtesten Liebesgedichte des viktorianischen Zeitalters sind wohl einige der 44 Sonette, die Elizabeth Barrett, eine damals hochgeschätzte Dichterin und „alte Jungfrau“ von etwa vierzig Jahren, an ihren Verehrer Robert Browning, einen sechs Jahre jüngeren Poeten, verfasste. Als Autorin war sie bekannter als er, aber er war jung, gesund und im Kommen. Sie kränkelte und lebte im Hause ihres tyrannischen Vaters. Eine eheliche Verbindung der beiden schien ausgeschlossen. Doch sie fand statt.

          Allen Hindernissen und Warnungen zum Trotz, rissen die beiden aus (mit Barretts Hund Flush, der später von Virginia Woolf in einem nach ihm benannten Buch verewigt wurde), entkamen nach einer heimlichen Heirat in London nach Italien und führten dort bis zu Elizabeths Tod ein glückliches Eheleben. Erst in Florenz zeigte sie ihrem Mann die Liebesgedichte, die sie während seiner stürmischen Werbezeit verfasst hatte. Er war gerührt und beeindruckt und bestand auf Veröffentlichung, obwohl die Sittenstrenge der Zeit „anständigen“ Frauen verbot, ihr Privatleben der Öffentlichkeit preiszugeben. Um den Anstand zu wahren, entschied man sich für die weiße Lüge, sie seien eine Übersetzung aus einer Fremdsprache. Daher der Titel „Sonette aus dem Portugiesischen.“

          Überwältigende Einsamkeit

          Eine delikate und delektable Liebesgeschichte, wie man sich’s in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht schöner wünschen konnte, mit happy ending und Versen, die bald ihren Weg in die Schulbücher finden sollten.

          Doch viele der Gedichte sind gar nicht so glücklich, sondern eher Ausdruck einer überwältigenden Einsamkeit, aus der die Dichterin ausbrechen möchte, ohne recht an diese Möglichkeit zu glauben. Die Angst vor einer Enttäuschung ist ihnen eingeschrieben und die Frage: Wie komme ich mit meinem Leben zurecht, wenn ich wieder allein sein muss? Im „Sechsten Sonett“ malt sie sich’s aus: Bis jetzt konnte ich an der Schwelle meines Einzellebens („individual life“) den Sonnenschein genießen und die Regungen meiner Seele beherrschen.

          Von jetzt an geht das nicht mehr, denn von jetzt an bin ich „zu zweit“, ein „Du“ hat sich in mein Inneres eingeschlichen, so dass nun ein zweites Herz neben meinem schlägt. Der Wein meiner Gedanken und Träume schmeckt von jetzt an unabänderlich nach zweierlei Traubensorten. Sogar in meinen Gebeten wird Gott in den Augen des einen Menschen, der ich bin, die Tränen zweier sehen.

          Zeilensprunghaft verflochten

          Man mag einwenden, gedanklich sei das alles nicht so großartig. Mann und Frau werden eins, das kennt man zur Genüge. Doch bei genauerem Hinsehen ist das nicht die übliche Formel von der Frau, die ihre Identität verliert und in dem Partner, an den sie sich klammert, aufgeht. Hier spricht umgekehrt ein Ich, das stark genug ist, ein zweites zu beherbergen, und das durch diese Bereicherung intensiver fühlt und denkt. Also nicht: Ich bin Teil meines Geliebten geworden, ich bin der Efeu, er ist die Eiche. Sondern umgekehrt: Ich habe ihn einverleibt, nicht er mich.

          Die Überzeugungskraft dieser Verse beruht aber nicht nur auf ihrem Inhalt und ihrer teils ungewöhnlichen Metaphorik (die Trauben!). In der altbewährten Form des Sonetts lässt die geübte Lyrikerin die Sprache selbst die Vereinigung stiften, nämlich durch den Zeilensprung, das Enjambement. Fünf der sechs Sätze, aus denen das Gedicht besteht, enden in der Mitte des Verses, sodass der Rhythmus sofort zu neuer Umarmung anhebt. Nur am Ende des Gedichts, in der letzten Zeile, endet ein Vers (unvermeidlicherweise) mit einem Schlusspunkt.

          Rainer Maria Rilke war, wie Elizabeth Barrett Browning, ein Meister des zeilensprunghaft verflochtenen Sonetts, und Liebesgedichte von Frauen faszinierten ihn. Rilke beherrschte mehrere Sprachen, das Englische war nicht seine Stärke (er stolpert, scheint mir, in den letzten Versen, die im Englischen besonders gelungen sind), doch er wusste: Die formelle Vollendung eines Gedichts bestätigt oder erhöht den Inhalt und gibt ihm erst seinen Wahrheitsanspruch. Rilke hält die Umarmungen des Enjambements so weit wie möglich ein, auch dort, wo es im Deutschen schwierig wird. Beide Dichter führten die Liebeserklärung in der Syntax durch, in Versen, die nicht aufhören, einander zu suchen.

          Elizabeth Barrett Browning: „Sonette aus dem Portugiesischen. Das sechste Sonett“

          Geh fort von mir. So werd ich fürderhin

          in deinem Schatten stehn. Und niemals mehr

          die Schwelle alles dessen, was ich bin

          allein betreten. Niemals wie vorher

           

          verfügen meine Seele. Und die Hand

          nicht so wie früher in Gelassenheit

          aufheben in das Licht der Sonne, seit

          die deine drinnen fehlt. Mag Land um Land

           

          anwachsen zwischen uns. So muss doch dein

          Herz in dem meinen bleiben, doppelt schlagend.

          Und was ich tu und träume, schließt dich ein:

           

          so sind die Trauben überall im Wein.

          Und ruf ich Gott zu mir: Er kommt zu zwein

          und sieht mein Auge zweier Tränen tragend.

           

          Aus dem Englischen von Rainer Maria Rilke

           

          ***

          „Sonnets from the Portuguese VI.“

           

          Go from me. Yet I feel that I shall stand

          Henceforward in thy shadow. Nevermore

          Alone upon the threshold of my door

          Of individual life, I shall command

           

          The uses of my soul, nor lift my hand

          Serenely in the sunshine as before,

          Without the sense of that which I forbore,  

          Thy touch upon the palm. The widest land

           

          Doom takes to part us, leaves thy heart in mine

          With pulses that beat double. What I do

          And what I dream include thee, as the wine

           

          Must taste of its own grapes. And when I sue

          God for myself, He hears that name of thine,

          And sees within my eyes, the tears of two.

           

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