Frankfurter Anthologie : Friedrich Rückert: „Der Reigen dreht ohn’ Unterlaß“
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Die universelle Macht des Todes: Friedrich Rückerts Gedicht ist gewiss eine der merkwürdigsten Bearbeitungen, die dem Sujet des Totentanzes je widerfuhr.
Der Totentanz, die „Danse macabre“, hat sich als Motiv in bildender Kunst, Literatur und Musik seit dem fünfzehnten Jahrhundert von Frankreich aus über ganz Europa verbreitet, doch die Ursprünge des Genres liegen noch immer im Nebel widerstreitender Theorien. Die „Europäische Totentanz-Vereinigung“ ist nicht, wie man meinen könnte, die Volkstanztruppe der Gothic-Szene, sondern eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Laien, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Totentanz-Darstellungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart zu sammeln, zu erforschen und gegebenenfalls vor Zerstörung oder Verlust zu bewahren. Im Netzauftritt der Organisation enthält die Rubrik „Totentänze in der Weltliteratur“ unter anderem Dichtungen von Goethe, Eichendorff, Heine, Rilke und Brecht. Es fehlt dort aber das unbetitelte „Reigen“-Gedicht von Friedrich Rückert, das 1888 in dem von seiner Tochter Marie postum veröffentlichten „Poetischen Tagebuch“ erschien und gewiss eine der merkwürdigsten Bearbeitungen ist, die dem Sujet je widerfuhren.
Der Begründer der Frankfurter Anthologie, und nicht nur er, rechnete den Dichter Rückert (1788 bis 1866) unter die „kleinen Meister“. Groß und unumstritten waren die Verdienste des aus Schweinfurt stammenden Sprachgenies als Philologe, Linguist und Übersetzer, als Vermittler zwischen Orient und Okzident. Geradezu maßlos war seine Gedichtproduktion, die rund 25000 Werke umfasst: Im neunzehnten Jahrhundert füllte sie Anthologien und Almanache, im zwanzigsten allenfalls noch Poesiealben. Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms und Richard Strauss schrieben Lieder auf Texte von Rückert, aber nur die Vertonung einiger seiner (insgesamt gut vierhundert) „Kindertotenlieder“ und fünf weiterer Gedichte durch Gustav Mahler ließ ihn als Lyriker im kulturellen Gedächtnis fortleben, was sich zum Teil der editorischen und philologischen Vermittlungsarbeit von Hans Wollschläger verdankt.
Die Knochenhand aus dem Geisterkarussell
Schon Zeitgenossen irritierte die Diskrepanz von sprachlicher Artistik und einer gewissen Substanzarmut in Rückerts poetischem Schaffen. Er war als Graphomane bekannt, der stets ein kleines Schreibheft bei sich trug, der buchstäblich reimte, wo er ging und stand, und Notiertes nachträglich nur selten überarbeitete. Die exotischen Formen und Metren, denen er als Gelehrter begegnete, erprobte er mit nimmermüdem Wortspieleifer und einer Reimlust, die zuweilen zwanghaft anmutet, an tausend Anlässen, auch privatester oder banalster Art. So entstand, neben umfangreichen orientalisierenden Gedichtzyklen, eine ausufernde Menge an Gelegenheitslyrik, die manchen Kritikern seltsam „menschenleer“ erschien. Das von Anton Webern überlieferte Diktum Gustav Mahlers: „Das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand“, das sich freilich auf eine kleine, handverlesene Auswahl bezog, gibt vor diesem Hintergrund noch immer einige Rätsel auf.
Neuere Forschungen haben erhellt, dass Rückert nicht danach strebte, sich mittels der Sprache als lyrisches Subjekt zu inszenieren und Seelenstimmungen auszuloten, wie es für die Mehrheit der romantischen Dichter verbindlich geworden war: Ihm ging es vielmehr um die Sprache selbst, die er als eine Art magisches Instrument verstand. Er träumte von einer verschwundenen Ur-Sprache, in der einst Klang, Bedeutung und Gegenstand zusammenfielen und mit der sich das bedichtete Objekt gleichsam leibhaftig nacherschaffen ließ. Wenn er, der notorische Melancholiker, unter dem Eindruck des Todes gegen Trauer und Verlusterfahrung anschrieb, suchte er nicht nach dem adäquaten Ausdruck für die Empfindung, sondern zelebrierte in der obsessiven Wiederholung ein „Wieder-Holen“ des Verlorenen und in der Reim-Manie die Heilung der Trennungswunden durch den „Zusammenklang“, den er, wie es seinem Lang- und Lehrgedicht „Die Weisheit des Brahmanen“ angedeutet wird, über den „Zusammenhang des Sinns“ stellte.
Das „Reigen“-Gedicht, eines seiner letzten, zeigt dieses Verfahren noch einmal in minimalistischer, gleichsam skelettierter Form. Der Tod tritt als Figur nicht auf, er offenbart sich nur in der harten, kargen Verszeile „Du mußt daran“, die siebenmal wie eine Knochenhand aus einem Geisterkarussell hervorschießt, um neue Tänzer zu rekrutieren. Das traditionelle Totentanz-Personal – alle Lebensalter, alle Gesellschaftsklassen – wird mit knappen Strichen skizziert, die Unausweichlichkeit des Vorgangs durch die doppelte Negation im dritten Vers bekräftigt. Das persisch-arabische Reimschema des Ghasel, das Rückert häufig verwendete, ist in den sechs Strophen durch raffinierte Verschränkung ebenfalls verdoppelt: Das erste Reimpaar, mit dem danach jeder zweite Versschluss korrespondiert, während die übrigen frei bleiben, wird unterbrochen durch die Mahnung „Du mußt daran“, die mit ihrer identischen Repetition eine zweite Ghasel-Struktur eröffnet und den Eindruck des gnadenlosen, ewig fortdauernden Kreiselns erzeugt.
Doch das Gedicht endet abrupt und verblüffend. Der abgelaufene Reisepass – der mit der harten Inversion „Ab ist er nun / Gelaufen“ förmlich zerrissen, ja zerhackt wird – fügt sich noch gut in die Todesmetaphorik. Aber was bedeutet „dein neuer Paß“, wenn nicht den Aufbruch zu einer neuen Reise? Natürlich war dem Indologen Rückert die Idee der Reinkarnation (der übrigens auch Gustav Mahler anhing) vertraut. Ist der „Reigen“, den Wolfgang Rihm, ein großer Literaturkenner unter den Komponisten unserer Zeit, im Jahr 2008 wahrhaft schwindelerregend vertont hat, vielleicht gar kein Totentanz, sondern das Rad von Sterben und Neugeburt? Wird dem Geholten deshalb „kein Auge naß“, weil er weiß, dass nichts zu Ende ist, dass er einfach nur weitermuss? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Friedrich Rückert aber winkt aus dem Club der toten Dichter sehr lebendig zu uns herüber.
Friedrich Rückert: „Der Reigen dreht ohn’ Unterlaß“
Der Reigen dreht ohn’ Unterlaß,
Du mußt daran;
Es ist für keinen kein Erlaß,
Du mußt daran.
Du sagst: mir ist von Jugendlust
Die Wange rot.
Wenn du daran kommst, wird sie blaß;
Du mußt daran.
Sie weinen, wenn sie dich geholt
Zum Reigen sehn,
Dir aber wird kein Auge naß,
Du mußt daran.
Und maß man eine längre Frist
Als andern dir,
Am Ende voll ist auch dein Maß,
Du mußt daran.
Du sagst: ich bin zu alt zum Tanz,
Mein Fuß ist lahm,
Mein Haupt ist schwach. Was hilft dir das?
Du mußt daran.
Dein Reisepaß, verlängert oft,
Ab ist er nun
Gelaufen; hier dein neuer Paß!
Du mußt daran.