Frankfurter Anthologie : Ralf Rothmann: „April in Paris“
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Beschrieben wird in diesem Gedicht ein Sehnsuchtsort. Sonderbar nur, dass das lyrische Ich sich bereits an ihm befindet. Romantische Erwartungen werden durchbrochen, doch die Such nach Liebe bleibt.
Nach „Kratzer und andere Gedichte“ von 1987 ist „Gebet in Ruinen“ aus dem Jahre 2000 Rothmanns letzter bislang erschienener Lyrikband, aus welchem auch vorliegendes Gedicht stammt. Nicht zu Unrecht, sondern auf unvollständige Weise wird der Autor vor allem für seine Prosa wahrgenommen und ausgezeichnet.
„April in Paris“ ist ein Gedicht über einen Ort, den man im romantischen Jargon vielleicht als „Sehnsuchtsort“ bezeichnen würde und der sich hier vor allem durch seine physische wie metaphysische Unerreichbarkeit auszeichnet. Die aus dem Gedicht hervorgehende Tatsache, dass sich das lyrische Ich bereits in Paris befindet, ändert nichts an seinem Mangelgefühl. Mittendrin in der Metropole und doch fernab vom Ziel seiner Wünsche, läuft es wie in einem Hamsterrad immer auf der Stelle. Nun, mag man denken, der Topos des frühlingserwachten Paris ist doch ein wenig stereotyp. Beschränkt sich das vorliegende Gedicht also darauf, durch „den antizipierenden, vorgreifenden Charakter imaginärer Gefühle“ eine „aus sich selbst heraus geschaffene romantische Einbildung zu nähren“, wie die Soziologin Eva Illouz den Einfluss von Kulturtechniken auf die Ausbildung romantischer Klischees im modernen Subjekt charakterisiert? Nein, im Gegenteil, schafft es Rothmanns Gedicht sehr wohl, hier einen Mehrwert zu erzeugen.
Die Realität der Innenwelt über die der Außenwelt stellen
Durch kleine und kleinste Verschiebungen des Sinns, die zu ironischen Brechungen führen, gelingt es dem Text unaufdringlich, die durch den Titel suggerierten, romantischen Erwartungen der Leserschaft zu unterwandern. Wie die „grommelnde Metro“, die als Verdauungsorgan der Großstadt „Mondbahn um Mondbahn verdaut“, sich also mit seiner Bahn zugleich den Mond, das romantische Symbol par excellence, lautmalerisch einverleibt, so „grommelt“ es wohl auch im Bauch des erzählenden Ichs.
Als zwei personifizierte Frühlingsboten und zugleich umwerfende poetische Bilder treten dann die summende Sonne und der Wind, der dem Ich „mit Regenfäden das Frühjahrsgrün ans Herz“ näht, auf. Beide schaffen ihm jedoch keinen Ausweg aus der emotionalen Ambivalenz: Das Ich will lieben! Verzweifelt ruft es nach jenem amourös kodifizierten Paris, das ihm kulturelle Stereotype versprochen haben, doch es bekommt keine andere Antwort als „stilles Bilderwelken in den Galerien“. Wo existieren sie denn nun, all die Ideale unserer romantischen Phantasien?, so scheint das Gedicht zu fragen. Können wir jene Orte, die durch Literatur, Kunst und sonstige kulturelle Techniken mit vorproduzierten Erwartungen überflutet sind, überhaupt erreichen? In den herkömmlichen Erinnerungsräumen klassischer Galerien jedenfalls findet das lyrische Ich sie nicht.
Statt eines Ankommens im Imaginären, gelingt es ihm immerhin für einen Moment, ganz in die Präsenz des Augenblicks zu sinken. Diese angenehme Unmittelbarkeit findet es im Vergessen der eigenen Person, in einem Café „zwischen Hacksteak, Staatsakt und Salat“, also ganz eigentlich, so könnte man vermuten, in der eigentümlichen Spannung zwischen den lakonisch hingesetzten Wörtern selbst. Doch ist es nicht nur die Jonglage mit den A-Lauten und Konsonanten, sondern auch mit den dahinter liegenden, konkreten Vorstellungsinhalten, die das Gedicht gelingen lässt: Die politische Spähre tritt in Spannung mit dem konkreten Essen, das auf dem Tisch liegt. Und die Wort-Karambolage von „kühle(m) Frauenblick“ und sich „küssende(r) Früchte“ zeigt semantisch den Versuch des Ichs, sich die Erotik der Stadt kulinarisch zu erschließen: Weil seine Sehnsucht an der Unnahbarkeit des Gegenübers abprallt, zerschmilzt es stattdessen eben vor dem Dessert.
Aufgrund seiner im wahrsten Sinne des Wortes enttäuschenden Erfahrungen, zweifelt das Ich aus der Retrospektive heraus daran, dass es tatsächlich in Paris gewesen ist. Es fragt sich jedoch nicht etwa, ob sein Bild von der Stadt falsch sein könne, sondern, ob es in der falschen Stadt gewesen sei. Durch die Art dieses Zweifels wird klar, dass es lieber seine erlebte Realität in Frage stellt, als bereit ist, seine nicht mit dieser Realität in Kongruenz zu bringenden Träume aufzugeben. Oder handelt es sich bei dem Erlebnis insgesamt nur um ein gedankliches Experiment? War und ist alles Lüge? Oder Märchen? Oder Poesie? Und wo liegt der Unterschied zwischen ihnen? Ob das Ich tatsächlich in Paris gewesen oder bloß mit dem restlichen „Wir“ seiner kulturellen Gemeinschaft an kleinen Tischen gesessen und einem märchenhaften Spiel aufgesessen ist, bleibt am Ende offen.
Was nachwirkt, ist die Vorstellung davon, wie ein romantisches Ideal trotz seiner im Gedicht sichtbaren Zersplitterung und Entmystifizierung als ein unzerstörbares Ganzes fortdauern kann: Es sind die imaginative Kraft und der ausgeprägte Wille des Ichs, die Realität seiner Innenwelt über die der Außenwelt zu stellen, die dieses Ideal aufrecht erhalten. Denn nur „wer liebt, wird den guten Geistern gelingen“.
Ralf Rothmann: „April in Paris“
Ich lief und lief und kam nicht von der Stelle
in Paris. Unter mir, in der grommelnden Metro,
wurde Mondbahn um Mondbahn verdaut,
und ich lief und aß und kam, inmitten von Paris,
nicht nach Paris. Die Sonne summte meinen Namen,
Wind nähte mir mit Regenfäden das Frühjahrsgrün ans Herz,
ich wollte lieben, rief Paris und hörte nichts als stilles
Bilderwelken in den Galerien. Ich wollte lieben,
denn wer liebt, wird den guten Geistern gelingen,
ist angekommen in Paris, und ich vergaß mich im Café,
zwischen Hacksteak, Staatsakt und Salat, zerschmolz
vor dem Dessert, in dem sich Früchte küßten,
und fand mich wieder in einem kühlen Frauenblick.
War das Paris? Das war gelogen. Und wenn wir nicht
gestorben sind, dann hocken wir noch heute hier,
an kleinen Tischen, und spielen Paris.