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Frankfurter Anthologie : Anja Kampmann: „es war das jahr“

  • -Aktualisiert am

Bild: Frank Röth

Geschichtsschreibung mit den Mitteln der Poesie: Dieses Gedicht erzählt von der großen europäischen Krise des vierzehnten Jahrhunderts und von einer Angst, die auch uns Heutigen geläufig ist.

          3 Min.

          Avignon, im Sommer 1348. Seit zwei Jahren bereits hatte sich die Pest in Europa ausgebreitet. Sie sprang von Osten nach Westen, von Süden nach Norden, von einer Stadt zur nächsten. Das Verderben, der tausendfache Tod, war unübersehbar. Doch blieben die Ursachen rätselhaft: „wars schlechte luft ein gas / vielleicht von jenem großen beben im friaul“. Die Gewalt dieses Bebens, das am 25. Januar 1348 den äußersten Nordosten Italiens erschüttert hatte, war angeblich noch in Rom zu spüren. Ein bedrohlicher Fingerzeig Gottes?

          Philipp VI. wollte es genauer wissen. Im Auftrag des französischen Königs sollten die gelehrten Mediziner an der Sorbonne nach einer besseren Erklärung suchen. Und so präsentierten sie im „Pariser Pestgutachten“ ihre eigene Deutung für die Herkunft der verheerenden Seuche: Eine ungünstige Konstellation von Mars, Jupiter und Saturn habe das Austreten krankheitserregender Dünste begünstigt. Zudem wussten die vom König berufenen Experten Rat, wie sich der Pest begegnen ließe. Bei ersten Symptomen empfahlen sie einen raschen Aderlass, helfen solle aber auch das Bespritzen mit Essig und das Verbrennen aromatischer Substanzen.

          Kein Zweifel, solche Neuigkeiten erreichten auch Clemens VI. in Avignon: „er hörte sagen hörte zahlen“. Sechs Jahre zuvor, im Mai 1342, war Pierre Roger, der Erzbischof von Rouen, zum Papst gewählt worden. Nach Benedikt XII. war er bereits der zweite Papst, der seinen Sitz nicht mehr in Rom nahm, sondern das kleine Städtchen am Rand der Provence vorzog. Seiner sagenhaft weltlichen Lebenslust stand das nicht entgegen, die persönlichen Grenzen eines Papstes legte er großzügig aus. Konnte es aber nun, in jenem „jahr in dem sich alles / beugte“, wirklich so weitergehen?

          Gib mir ein Spiel, ein Bild, ein Wort

          Mit lyrischen Mitteln entfaltet Anja Kampmann eine Historiographie der großen europäischen Krise des vierzehnten Jahrhunderts. Vom idyllischen Avignon aus schauen wir auf das schreckliche Geschehen: „pest / war nun herangedrängt bis an die mauern des palasts“. Noch höher als dort beim Papstpalast sind Mauern kaum je gebaut worden. Sollten sie wirklich Schutz bieten können vor ansteckender Luft? Der nüchtern rollende Takt der Jamben lässt wenig Zweifel: „und hungrig strich der schwarze atem übers land“. Am Ende sollen dieser Pandemie in ganz Europa 25 Millionen Menschen erlegen sein.

          Im Gedicht werden keine Toten gezählt, keine von Krankheit Gezeichneten beschrieben; jede Trauer bleibt unerwähnt. Die Verse sind ein Protokoll individueller Angst. Und sie erzählen von den eigenwilligen Maßnahmen, mit denen der Papst seiner Todesfurcht entgegentrat. Den Sommer dieses verlorenen Jahres – „ein jahr das keines war“ – soll Clemens VI. „zwischen zwei feuern“ verbracht haben. Von Flammen flankiert, wollte er dem Tod entgehen. Seine Sorge war durchaus berechtigt: Ein Drittel der in Avignon anwesenden Kardinäle starb an der Pest. Und tatsächlich könnte seine eigentümliche Idee hilfreich gewesen sein. Der Rauch mag jene Flöhe, von denen die Krankheit übertragen wurde, ferngehalten haben.

          Sollte es sich wirklich so zugetragen haben, dann war dies eine merkwürdige Übung in Askese. Der sinnenfreudige Papst, ganz auf sich selbst zurückgewor-fen, verharrt in einer Szene von aufdringlicher Symbolik: Entzündet und genährt wurde ein Höllenfeuer, das nicht strafen und verderben, sondern schützen sollte: „im negativbereich verzerrt zwischen zwei feuern / saß clemens um ihn leuchtete die angst“. Diese Angst mochte sich nicht abschütteln lassen, eine Auszeit von ihr, wenigstens eine kurze, konnte das Ausharren aber erträglicher machen: „in manchen nächten stahl er sich hinein“.

          Hinein in den Palast, hinein in das schönste Zimmer zwischen den hohen Mauern. Die bemalten Wände zeigen Falkner bei der Jagd, einen Hirsch, von Hunden gehetzt, und einen Fischweiher, an dessen Rand Angeln und Netze ausgeworfen werden. Es ist das „Chambre de Cerf“, das Hirschzimmer, ausgemalt wohl von Robin de Romans, einem Schüler der aus Italien herbeigeholten Meister. Im riesigen Palast der Päpste zeigt nur dieses eine Zimmer Fresken mit weltlichen Motiven. Sie gehören zu den ergreifendsten, die aus dem späten Mittelalter überliefert sind. Die lustvolle Schönheit dieser Szenen ist auch heute noch unmittelbar überwältigend.

          Für Clemens VI., zwischen den Feuern gefangen, mögen sie eine melancholische Erinnerung an bessere Zeiten gewesen sein: „gib mir ein bild gib mir die hohen wände / gib mir ein spiel gib mir die jagd“. Und vielleicht waren sie eine Versuchung, sich in ihnen, wenigstens in Gedanken, zu verlieren. Die Angst vor der Ansteckung, vor Krankheit und Verderben, mag ins Innere des Palasts gekrochen sein, an seinen Wänden, als Sehnsuchtsort, öffnet sich der Ausblick auf „jenen dunklen wald in dem sich unergründlich suchen lässt“. Es sind die Bilder, die mitten in der Gefahr den größten Trost versprechen.

          „es war das jahr“ steht, einem Frontispiz gleich, am Anfang von Anja Kampmanns Gedichtband „der hund ist immer hungrig“. Der Umschlag des Buches ist mit dem berühmten Fresko aus dem Hirschzimmer von Avignon illustriert. Und doch handelt keines der anderen Gedichte dieser Sammlung von einem historischen Gegenstand, von Päpsten und Palästen, unvergänglichen Fresken oder der Pest. Alle anderen kreisen um Geschichten und Beobachtungen aus unserer eigenen Zeit. Nur eines, das erste, führt uns zurück ins vierzehnte Jahrhundert – und ist dabei ganz gegenwärtig.

          Anja Kampmann: „es war das jahr“

          es war das jahr in dem sich alles
          beugte wars schlechte luft ein gas
          vielleicht von jenem großen beben im friaul

          was solls er hörte sagen hörte zahlen
          der schwarze schlechte garten pest
          war nun herangedrängt bis an die mauern des palasts

          und es war sommer heiß
          und clemens saß zwischen zwei feuern
          er blieb er ließ sich bringen holz

          und wein. und saß
          zwischen zwei feuern
          in manchen nächten stahl er sich hinein

          sah alle jagd und sah den hunger
          an den wänden hunde falken hirschjagd
          kritzeleien es war das jahr der pest  

          ein jahr das keines war die flammen
          nur als farbe stiegen auf

          ein negativbereich vor dem die spuren
          dieser träume seltsam schwankten

          und hungrig strich der schwarze atem übers land

          im negativbereich verzerrt zwischen zwei feuern
          saß clemens um ihn leuchtete die angst

          gib mir ein bild gib mir die hohen
          wände gib mir ein spiel gib mir die jagd

          und jenen dunklen wald in dem sich
          unergründlich suchen lässt
          der weg
          und der vorangeht kennt die spur

          und der vorangeht kennt das schicksalslied der wünsche
          das ich sang

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