Frankfurter Anthologie : Hans Magnus Enzensberger: „Die Seife“
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Bild: Barbara Klemm
Wie man der Vergänglichkeit von der Pathos-Schippe springt: Ein Gedicht über das allmähliche Verschwinden der Seife infolge regelmäßigen Gebrauchs.
In seinem ersten Gedichtband, vor 65 Jahren unter dem rasch kanonisch gewordenen Titel „Verteidigung der Wölfe“ erschienen, findet sich auch ein Gedicht mit dem Titel „Geburtsanzeige“. Hans Magnus Enzensberger, der vier Jahre danach die Sammlung „Allerleirauh“ mit Kinderreimen herausgeben sollte, machte darin einem Neugeborenen gnadenlos die Rechnung auf: Es sei bereits in der Stunde der Geburt – „die Windeln sind noch nicht einmal gesäumt“ – verraten und verkauft, verzettelt und verbrieft, verworfen und verwirkt.
Es ist ein geradezu brutaler Sarkasmus, der hier einen fremdbestimmten Lebensweg in einer verwalteten Welt skizziert, aber dann, in der letzten von sechs Strophen, weist das Gedicht mit der Wendung „wenn nicht“ überraschend einen Ausweg: „wenn nicht das Bündel das da jault und greint / die Grube überhäuft den Groll vertreibt / was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft / mit unerhörter Schrift die schiere Zeit beschreibt / ist es verraten und verkauft“. Das Bündel soll also Dichter werden.
Ein Abschiedsgruß
Schonungslose Beschreibung der Lage, Kritik an den bestehenden Verhältnissen und am Ende ein Akt der Selbstermächtigung – das sollte ein wiederkehrendes Muster im Werk Enzensbergers bleiben. Vor der Selbstkanonisierung, die er auf Grundlage einer gründlichen Analyse der Gegebenheiten von Tradition und Literaturbetriebsmechanik vorantrieb, kam die Selbststilisierung: der Schriftsteller als Beobachter und Chronist, der das eigene Engagement möglichst kleinhält und herunterspielt, wenn nicht sogar verschleiert, um so jeglichem Versuch einer Indienstnahme zuvorzukommen. Enzensberger wusste Brechts Verweigerungsschraube noch eine weitere Drehung zu geben: In mir habt ihr noch nicht einmal einen, auf den ihr euch nicht verlassen könnt.
Mit unerhörter Schrift die schiere Zeit zu beschreiben – eine geringe Aufgabe ist das nicht. Auch das Vergehen der Zeit, also das Welken von Träumen, Idealen, Illusionen, gehört dazu. Als 1980 der Band „Die Furie des Verschwindens“ erschien, also fast eine Generation nach dem Debütband, fand sich darin auch das Gedicht „Die Dreiunddreißigjährige“. Es beginnt so: „Sie hat sich das alles ganz anders vorgestellt.“ Und es endet mit einer ebenso zarten wie mitleidslosen Feststellung: „Wenn sie weint, sieht sie aus wie neunzehn.“ Dazwischen schilderte Enzensberger auf neunzehn Zeilen das Miniaturdrama einer weiblichen Ernüchterung – die schöne Desillusionierte, eine Figur, als wäre sie gerade aus einem Stück von Botho Strauß gefallen. Man sah sie vor sich, hörte ihren Tonfall: schmollend, vor aufkommender Weinerlichkeit in routinierte Koketterie sich flüchtend.
Später kam die Vergänglichkeit hinzu. Die Körper verfielen, die Weggefährten wurden vermisst, „weil sie unter der Erde liegen“, wie es in „Gäste“ (2013) heißt. Enzensberger gab eine „Verlustanzeige“ auf, schilderte eine erste Begegnung mit dem Engel des Todes („Die Visite“) und legte eine Liste an mit Dingen, die weniger Gewicht haben als die Luft: „Am leichtesten wiegt vielleicht, / was von uns übrigbleibt, / wenn wir unter der Erde sind.“
Die Furie des Verschwindens hatte er souverän beschworen (1980), aber wie ließe sich dem Vanitas-Motiv von der Pathos-Schippe springen? In seinem großen Essay über William Carlos Williams hatte Enzensberger 1961, immer auf der Suche nach den Merkmalen moderner Poesie, unter anderen auch das Gedicht „Vollkommenheit“ zitiert: „O lieblicher Apfel! / herrlich und völlig // verfault . . .“ Es folgte eine kleine Poetik des Ding-Gedichts: „Das ist ein Stillleben, eine nature morte. Der französische Ausdruck trifft die Sache. Das Ding-Gedicht hat es sich aus dem Kopf geschlagen, seinen Gegenstand zu beseelen (wie bei Rilke); nicht seine Dauer wird gerühmt; seine wahre Konsistenz, die Vergänglichkeit, zeigt sich im Augenblick des Verfalls. Einzig und allein in diesem Sinn kann er als Metapher verstanden werden, und zwar als implizite Metapher, die nicht für etwas anderes, sondern nur für sich selbst einsteht.“
Auch „Die Seife“, dieser Abschiedsgruß, den Enzensberger 2013 einem ganz und gar verbrauchten Ding hinterherschickte, den großen Abfluss hinunter, ist solch ein Stillleben. Nicht die Beständigkeit der Seife wird gerühmt, sondern ihre Vergänglichkeit. Nicht ihr Werk wird gelobt, sondern die Haltung, mit der sie es verrichtete und ihre Bestimmung erfüllte. Sie war Seife, nichts als Seife, voll und ganz Seife. Sie hat nie vorgegeben, etwas anderes sein zu wollen, als sie war. Das hat sie gemeinsam mit dem Dichter, der sie besungen hat.
Hans Magnus Enzensberger: „Die Seife“
Wie stolz sie war, wie üppig sie anfangs
geduftet hat! Durch wie viele Hände
sie gegangen ist, wie entsagungsvoll
sie gedient hat, und immer von neuem
war da der Dreck. Unbefleckt
ist sie geblieben. Klaglos
hat sie sich selber verzehrt.
So ist sie immer kleiner und kleiner
geworden, unmerklich, dünn,
beinahe durchsichtig, bis sie eines Morgens
vollkommen verschwunden war.