Frankfurter Anthologie : Arne Rautenberg: „das neue gedicht“
- -Aktualisiert am
Bild: F.A.Z.
Geniestreich oder Murks in der ewigen Vorstufe? Dem fertigen Gedicht sieht man nicht an, unter welchen Umständen es entstanden ist. Nur der Dichter selbst weiß mehr.
„Keiner auch der großen Lyriker unserer Zeit“, so hielt es Gottfried Benn vor siebzig Jahren fest, habe mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen, „die übrigen mögen interessant sein unter dem Gesichtspunkt des Biographischen und Entwicklungsmäßigen des Autors, aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination“ sei eben nur eine Handvoll.
Das lässt sich so allgemein oder in der Rückschau auf ein Lebenswerk leicht sagen, doch in der täglichen Praxis einer Dichterin, eines Dichters wird es zum Problem. Und das liegt daran, dass der Vorgang, ein Gedicht zu schreiben, mit euphorischen Zuständen einhergeht. Das Gefühl, ein neues, möglichst gelungenes Gedicht in Händen zu halten, ist einfach so toll, dass man es immer wieder haben möchte. Meist geht eine längere Zeit des Wartens voraus, während der die Zuversicht, überhaupt jemals wieder etwas Nennenswertes zu Papier zu bringen, gering ist. Mit tastenden Versuchen wird dieser Wartesaal nur erst halb verlassen. Dann aber – man weiß meist nicht, wie – nimmt das Gedicht plötzlich Fahrt auf. Eben noch ein Nichts im Dunkeln, strahlt es plötzlich hell auf den Bildschirm oder wo auch immer, und schon stellt sich eine Art Frohlocken ein: Nicht möglich! Das soll von mir sein? Halleluja!
Die Freude über das eigentlich noch gar nicht sichere Gelingen führt bisweilen zu Übersprungshandlungen. Übersprungen wird dabei nicht zuletzt die kritische Kontrolle, der abgekühlte Blick auf das neue Gebilde. Kaum ist das Gedicht da, soll es auch schon in die Welt hinaus – mit dem Risiko, erschreckend Halbfertiges in Umlauf zu bringen. Jemand, der es damit besonders eilig hatte, war Rilke, der seine im Februar 1922 in reicher Zahl auf ihn herabregnenden „Sonette an Orpheus“ gleich abschrieb und per Brief verschickte – hinterher musste er dann die Empfänger bitten, das eine oder andere Sonett zu überkleben.
Mit den Mitteln heutiger Technik ist der lyrischen Frühgeburt erst recht Tür und Tor geöffnet. Was dabei passieren kann, hat der in Kiel lebende Dichter Arne Rautenberg mit leichter Hand in ein wunderbar locker gefügtes und selbstironisches Gedicht eingezeichnet. Es heißt passenderweise „das neue gedicht“ und ist im jüngsten Band des Autors enthalten, dessen Titel „betrunkene wälder“ als Hommage an den Schaffensrausch gelesen werden darf.
Im Wartesaal der Geistesblitze
Das Gedicht ist so einfach wie raffiniert. Es spricht von einem anderen Gedicht, das wir nie zu sehen bekommen. Dieses andere ging, noch ehe wir es lesen konnten, schon in den Verteiler: „ich mailte einem arrivierten / mein neuestes gedicht“. Wer dieser Arrivierte ist, darüber dürfen wir rätseln, sei er nun erfunden oder nicht. Wichtig ist jedenfalls, dass hier eine Gemeinschaft der Dichtenden skizziert wird, in der es ein Gefälle gibt. Jemand, der selbst nicht arriviert ist oder zumindest vorgibt, es nicht zu sein, will sich mit seinem frischen Werk für höhere Aufgaben empfehlen. Das scheint auf Anhieb zu gelingen, denn das Lob kommt prompt: „welch schönes stück welch feines licht“, das hört man immer gern, wenn es auch etwas unspezifisch klingt.
Die Euphorie währt nur kurz. Denn der Autor hat die falsche Datei geschickt, die nur Vorstufen enthielt, also eigentlich einen Murks, und das Irritierendste daran ist das gönnerhafte Lob des Arrivierten, der, wenn überhaupt, nur oberflächlich gelesen hat und sich um den Irrtum gar nicht weiter schert: „ach arne / das ist doch alles so egal“ – kein Grund, das Ganze noch mal zu lesen und zu vergleichen! Das rückt die neueste Kreation des Autors zwar in ein gedämpftes Licht, aber er hat trotzdem einen Treffer gelandet, denn nicht er, sondern der Arrivierte hat sich mit seiner laxen Art zu kommentieren ins Knie geschossen.
Und dennoch scheint das unsichtbare, das unfertige, das verworfene Gedicht in diesem durchzuschimmern, das wir vor der Nase haben. Es hält in seiner Skizzenhaftigkeit die Signatur des rasch Dahingeworfenen fest, von dem es redet. Es bewegt sich in einem lyrischen Freistil zwischen Volksliedstrophe und bloßer Notiz, es greift sich Reime, die es genauso gut auch liegen lassen könnte, es balanciert mit salopper Lust am Rande des Rhythmischen und nennt sogar den Vornamen seines Verfassers – womit es das schulmäßige Gerede vom lyrischen Ich herrlich aus der Bahn kegelt.
Es ist auf kunstvolle Weise ziemlich slapstickhaft und macht einfach Spaß. Das mit den sechs vollendeten Gedichten ist so was von egal, denn jeder neue Versuch zählt: Ein Aperitif für die große Wundertüte der „betrunkenen wälder“, in denen zu torkeln eine Freude ist.
Arne Rautenberg: "das neue gedicht"
ich mailte einem arrivierten
mein neuestes gedicht
er schrieb zurück
welch schönes stück welch feines licht
da merkt ich dass ich ihm
nicht das gedicht stattdessen
bloß notizen zum gedicht
gab zum ermessen
also überschüsse redundanzen
leerzeilen variationen
unfertige halbgedanken
die allemal zum streichen lohnen
ich schrieb oh sorry das waren notizen
war spärlich nur material
darauf schrieb er ach arne
das ist doch alles so egal