Fragen Sie Reich-Ranicki : Ein verzweifelter Genießer des Lebens
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Sie waren beide Journalisten und Feuilletonisten, sie arbeiteten für dieselbe Zeitung, waren hervorragende Beobachter und wunderbare Stilisten. Marcel Reich-Ranicki über Joseph Roth und Friedrich Sieburg.
Inwieweit ist ein Unterschied auszumachen zwischen den Feuilletonbeiträgen von Joseph Roth und Friedrich Sieburg aus Paris in der damaligen „Frankfurter Zeitung“? Hans-Hermann Kamps, Herdecke
Reich-Ranicki: Ich habe von beiden Autoren viel gelesen und fast immer mit Vergnügen. Ich schätze den einen wie den anderen. Tatsächlich gilt vieles für Roth und, überraschenderweise, auch für Sieburg: Sie waren Generationsgenossen (Roth wurde 1894 geboren, Sieburg 1893), sie waren beide Journalisten und Feuilletonisten, sie arbeiteten für dieselbe Zeitung, waren hervorragende Beobachter und wunderbare Stilisten. Man könnte noch viele weitere Parallelen aufzählen.
Dennoch scheint mir der Vergleich unergiebig und letztlich vollkommen überflüssig. Roth war Jude (genauer: Ostjude) und Österreicher - und damit ist schon beinahe alles gesagt, was seine Persönlichkeit und sein Werk geprägt hat. Wie Raimund und Nestroy, wie Schnitzler und Hofmannsthal verstand sich auch Roth auf die österreichische Kunst, die Einsicht in das Elend und in die Vergänglichkeit des Daseins in bestrickend freundlicher Form zu bieten und noch aus dem Lebensüberdruss wahre Meisterwerke der Liebenswürdigkeit zu schaffen.
Ein Ostjude auf der Suche nach einer Heimat - das mag die Formel sein, mit der sich Roths Lebensweg noch am ehesten andeuten lässt. Dieser Weg begann in einem armseligen Nest Galiziens, führte über die Metropolen Mitteleuropas und endete in der prächtigsten Hauptstadt der westlichen Welt, in Paris. Nur eben in einem Armenspital. Die an seinem Grab standen - ebenso orthodoxe Juden wie gläubige Katholiken, ebenso österreichische Monarchisten wie deutsche Kommunisten -, wollten ihn alle für sich reklamieren.
Roth war ein verzweifelter Genießer des Lebens, der Schutz suchte nicht nur im Alkohol, sondern auch im Skurrilen und im Komödiantischen, in verschiedenen Rollen und hinter vielen Masken - und niemand in seiner Umgebung konnte sagen, wo das Spiel aufhörte und wo die Wirklichkeit begann. Er gefiel sich als Kauz mit Grandezza und als Vagabund mit Kavaliersmanieren, als ein charmanter Nomade und ein resignierter Bonvivant. Er war ein begnadeter Schelm und ein schwermütiger Poseur, ein Schalk mit Noblesse, ein Snob mit ahasverischen Zügen und ein Bohemien mit dem Trieb zur Selbstzerstörung, ein gewandter Kaffeehausprophet, dem niemals die aufmerksam lauschenden Jünger fehlten.
Sieburg war ein ganz anderer Typ. Obwohl er seit 1920 Bücher veröffentlichte und ständig für die Presse arbeitete, spielte unter den vielen Themen, mit denen er sich befasste, die Literatur eine verschwindend geringe Rolle. Dies änderte sich einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als Sieburg nach einer nicht freiwilligen Unterbrechung seiner literarischen Laufbahn wieder zu schreiben anfing.
Jetzt verfasste er regelmäßig Rezensionen. Der Grund: Der Mann, der Jahrzehnte hindurch ein vornehmlich politischer und kulturpolitischer Schriftsteller und Journalist gewesen war, sah sich nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ genötigt, sich einem neuen Arbeitsbereich zuzuwenden. Zuflucht suchte er bei der Literaturkritik. Sie wurde für ihn zu einer Ersatzbetätigung, für die er die allerbesten Voraussetzungen mitbrachte: eine umfassende Bildung, Scharfsinn und Geschmack und eine höchst beachtliche Artikulationsfähigkeit.
Die im letzten Jahrzehnt seines Lebens geschriebenen Kritiken lassen freilich erkennen, dass Sieburgs seit 1945 empfindlich gereiztes Selbstgefühl immer wieder verletzt wurde. Er beschäftigte sich vor allem mit seinen eigenen Wunden, die er der Öffentlichkeit und nicht ohne Selbstmitleid vorwies. Fast unmerklich geht die Charakteristik mancher Bücher in Selbstverteidigung über und gelegentlich in eine von Larmoyanz nicht freie Klage über das Unrecht, das ihm angeblich im Nachkriegsdeutschland widerfahren sei. Seine Gegner haben ihn oft bekämpft und schließlich nur noch ignoriert. Am Ende seines Lebens war er einsam, wenn nicht isoliert.
In einer seiner Skizzen schrieb Sieburg, es sei ein sehr gewagtes Unternehmen, frei zu werden: „Auch die Sklaverei hat ihre bequemen Seiten.“ Tatsächlich war es ihm gelungen, der nationalsozialistischen Sklaverei für sich selber ungewöhnlich bequeme Seiten abzugewinnen, ohne dass er dem Regime sonderliche Zugeständnisse gemacht hätte. Da seine Gegner stets einen Pariser Vortrag Sieburgs von 1941 zitierten - ein nicht angenehmes Dokument, das jedoch, verglichen mit Verlautbarungen anderer deutscher Journalisten seiner Generation, eher mild anmutet -, hat er damals offenbar nichts Belastendes publiziert.
Indes war nicht die Literaturkritik die starke Seite seines Talents. Sieburgs Meisterschaft kam vor allem im gesellschaftskritischen Feuilleton zum Vorschein, in der sarkastischen Glosse, im ironischen Genrebild. Viele Phänomene des bundesdeutschen Alltags hat er als Erster wahrgenommen. Er war wohl der geistreichste, ja der beste deutsche Feuilletonist der frühen Nachkriegszeit.
Joseph Roth starb 1939, Friedrich Sieburg 1964. Dem Kritiker und dem Feuilletonisten flicht die Nachwelt keine Kränze. So wird es nicht mehr lange dauern, und mit den Schriften Sieburgs werden sich nur noch die Literaturkritiker beschäftigen. Und Roth? Er wird, dessen bin ich sicher, nicht so bald in Vergessenheit geraten. Denn er hat auch Erzählungen verfasst, auch einige schöne und bedeutende Romane, zumal den „Radetzkymarsch“.