Fragen Sie Reich-Ranicki : Diese eigenartige, wundersame Kindlichkeit
- Aktualisiert am
Joseph Roth, 1894 bis 1939 Bild: DST Bildarchiv
1894 in Galizien geboren, starb der große Epiker Kakaniens, keine 45 Jahre alt, als Exilant in Paris. Seine bedeutendsten Romane, zu denen „Hiob“ (1930), „Radetzkymarsch (1932) und „Die Kapuzinergruft“ (1938) zählen, sind höchst lebendig geblieben. Marcel Reich-Ranicki über Joseph Roth.
Was halten Sie von Joseph Roth? R.-R.
Er liebte die Anmut mehr als den Tiefgang und hatte Charme genug, um auf die Gewichtigkeit zu verzichten. Leicht gab sich die Weisheit Joseph Roths, gelassen und heiter. Doch wie sich hinter seiner Leichtigkeit Gram verbarg, so hinter der scheinbaren Gelassenheit der schreckliche Unrast, und seine Heiterkeit war die bitterste, die sich vorstellen lässt. Nur wusste er diese Gram erträglich, diesen Unrast apart und diese Bitterkeit schmackhaft zu machen.
Wie Raimund und Nestroy, wie Schnitzler und Hofmannsthal verstand sich auch Roth auf die österreichische Kunst, die Einsicht in das Elend und in die Vergänglichkeit des Daseins in bestrickend freundlicher Form zu bieten und noch aus dem Lebensüberdruss wahre Meisterwerke der Liebenswürdigkeit zu schaffen. Wie mancher seiner bewundernswerten Vorgänger distanzierte er sich oft von der Gegenwart, doch nie vom Publikum.
Auch er hat das Gefällige nicht immer und nicht unbedingt verachtet, ja, er fand geradezu ein Vergnügen daran, den Lesern menschenfreundlich und mit einem augenzwinkernden Lächeln entgegenzukommen - gelegentlich so weit, dass gestrenge Kunstrichter Anlass hatten und haben, sorgenvoll das Haupt zu schütteln.
Das alte Österreich war seine Heimat
Was aber Joseph Roth von einem Erzähler wie etwa Arthur Schnitzler, dem er übrigens nicht wenig verdankte und den er gegen leichtfertige Angriffe verteidigte, deutlich unterscheidet, ist vor allem seine Naivität, seine höchst eigenartige Kindlichkeit. Aber er war nicht naiv von Anfang an. Er ist es erst geworden.
Ein Ostjude auf der Suche nach einer Heimat - das mag, wenn man die Vokabel Heimat nur weit genug versteht, jene Formel sein, mit der sich Joseph Roths Lebensweg noch am ehesten andeuten lässt. Er mutet geradezu parabolisch an: Denn er begann in einem armseligen Nest Galiziens, führte über die Metropolen und endete in der prächtigsten Hauptstadt der westlichen Welt, in Paris, nur eben in einem Armenspital. Die an seinem Grabe standen - ebenso orthodoxe Juden wie gläubige Katholiken, ebenso österreichische Monarchisten wie deutsche Kommunisten -, wollten ihn alle für sich reklamieren.
Das alte Österreich war seine erste große Leidenschaft. Als das Reich der Habsburger zerfiel, ging Roth den Weg der Heimatlosen, der Intellektuellen der zwanziger Jahre - nach links und nach Berlin.