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Fragen Sie Reich-Ranicki : Das ist nichts anderes als Selbstverteidigung

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Kaiserstraße in Frankfurt a.M.

Kaiserstraße in Frankfurt a.M. Bild:

Was ist heute noch übrig vom literarischen Werk Theodor Herzls? Fördert die F.A.Z. den Frankfurt-Roman? Marcel Reich-Ranicki antwortet - und wendet sich mit einer dringenden Bitte an seine Leser.

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          Was ist heute noch übrig vom literarischen Werk Theodor Herzls? Werden seine Werke in der deutschsprachigen Welt überhaupt noch gelesen? Elad Jacobs, Berlin

          Reich-Ranicki: Der österreichische Jude Theodor Herzl ist eine originelle, eine ungewöhnliche Figur der Weltgeschichte - wohlgemerkt: der Weltgeschichte, nicht der Weltliteratur. Geboren 1860 in Budapest, begann er schon früh seine zunächst journalistische und literarische Laufbahn. Er war ein Feuilletonist, ein Reporter und ein Lustspielautor, sehr bald ein Politiker und ein Staatsmann - wenn auch ein Staatsmann ohne Staat. Schließlich war er ein Prophet, dessen Utopie Wirklichkeit wurde.

          Mit seiner publizistischen Arbeit „Der Judenstaat“ (1896) gab Herzl den Anstoß zur zionistischen Bewegung und schuf die Voraussetzungen für die Gründung des jüdischen Staates. Immer wollen die Schriftsteller die Zeitgenossen und womöglich die Welt verändern. Immer entwerfen sie Zukunftsvisionen, die freilich in der Regel nicht in Erfüllung gehen.

          Literat, der er war, wählte Herzl für seine Vision des Staates Israel die Form eines Romans. Er erschien 1902 unter dem Titel „Altneuland“. Geradezu paradox mutet das an: Der neuzeitliche Staat der Juden - das war erst einmal ein Stück deutscher Literatur, ein zwar künstlerisch unerheblicher, doch folgenschwerer Roman.

          Die literarischen Arbeiten Herzls sind heute allesamt vergessen, doch werden sie nicht selten als historische und zeitgeschichtliche Quellen verwertet. Das gilt wohl auch für „Altneuland“.

          Zahlreiche zeitgenössische deutsche Romane spielen in Berlin oder Frankfurt am Main. Fördert die F.A.Z. mit ihren Vorabdrucken der jüngsten Zeit (Silke Scheuermann, Wilhelm Genazino, Martin Mosebach) auch gezielt den Frankfurt-Roman? Bettina Hinterthür, Köln

          Auf diese Idee bin ich noch nie gekommen. Und sie scheint mir ganz und gar abwegig. Oft spielen neuere deutsche Romane in München, nicht wenige in Hamburg oder Wien. Es gibt viele Gesichtspunkte, die bei der Auswahl eines Romans für den Vorabdruck in der F.A.Z. berücksichtigt werden. Dazu gehört nicht - wenn ich richtig informiert bin - der Ort der Handlung.

          Übrigens sehe ich es gern, wenn die Autoren sich zu Orten entschließen, die sie gut kennen. Aber Schiller ließ seine Stücke in Ländern spielen, in denen er nie gewesen war - die „Maria Stuart“ in England, die „Braut von Messina“ und den „Fiesco“ in Italien, den „Don Carlos“ in Spanien, den „Tell“ in der Schweiz, die „Jungfrau von Orleans“ in Frankreich. Und die Stücke sind doch gar nicht schlecht geworden, ja er verdankt ihnen den Ruhm, Deutschlands größter Dramatiker zu sein. Aber wenn ich es recht bedenke, hat das mit Ihrer Frage eigentlich wenig zu tun.

          In eigener Sache:

          Ich muss mich an meine Leser in einer dringenden Angelegenheit wenden, mit einer dringenden Bitte. Ich erhalte beinahe täglich Manuskripte und Bücher, die ich begutachten soll. Viele Briefe sind höflich, andere geradezu fordernd unverschämt. Es hätten, lese ich, 23 deutsche Verlage das beigelegte Manuskript geprüft und abgelehnt, und zwar - das sei doch ungeheuerlich - ohne einleuchtende Begründung. Man erwartet von mir jetzt ein ausführlich begründetes Urteil. Das Wort „ausführlich“ wird meist unterstrichen. Um Gedichte handelt es sich, um Romane, Novellen, Dramen, Erinnerungen, Tagebücher. Häufig sind es auch politische, religiöse und philosophische Werke. Meine eigenen Bücher werden mir häufig ebenfalls übersandt - mit der Bitte um Signatur.

          Es ist mir ganz und gar unmöglich, diese Wünsche zu erfüllen: Die Leser sind sich dessen nicht bewusst, dass sie mich überfordern. Nie in meinem Leben habe ich die literarischen oder publizistischen Arbeiten meiner Leser beurteilt. Und ich werde damit jetzt nicht anfangen. Ich habe keine Zeit dazu und keine Kraft. Wenn Sie eine Erklärung dieses Sachverhalts brauchen, dann schlagen Sie doch im Brockhaus nach, wie alt ich bin.

          Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie: Unterlassen Sie die Zusendung irgendwelcher Manuskripte oder gedruckter Arbeiten. Auch wenn Rückporto beigelegt ist, werde ich sie nicht zurückschicken, vielmehr werde ich sie ungelesen vernichten. Das ist nichts anderes als Selbstverteidigung. Ich bitte meine Leser, mir nicht zu grollen, ich bitte sie um Verständnis.

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