Kochbuchkolumne „Esspapier“ : Warum ist der Steinbutt so zahm?
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Gänseblümchen, Löwenzahn, Taubnessel und Gundermann: Ein Kräutersalat kann äußerst vielfältig sein. Bild: Picture-Alliance
Weil Jean Sulpice ihn mit Mohnblüten besänftigt. 2300 Meter über dem Meer führt der Zweisternekoch in den französischen Alpen die Kräuterküche in ganz neue Höhen.
Jean Sulpice ist der Chef des nach ihm benannten Restaurants in der Résidence L’Oxalys in Val Thorens, einer Appartement-Wohnanlage auf 2300 Meter Höhe in den französischen Alpen. Der mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch gehört zu jenen französischen Köchen, die in ihrer Arbeit die Produkte ihrer Region intensiv reflektieren. Sulpice hat vier Jahre an der Seite des einflussreichen Natur-Avantgardisten Marc Veyrat gearbeitet und bereits mit „Altitude 2300 m“ (2008) eine Rezeptsammlung von beträchtlicher Individualität vorgelegt.
Nun glänzt er mit „L’Assiette Sauvage“ abermals, und das an einer Stelle, die unzähligen Autoren von Büchern über die Arbeit mit Kräutern nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Es geht darum, wie man das Aroma von Kräutern und Pflanzen, die sich eben nicht alle wie Thymian, Liebstöckel oder Rosmarin durch einen äußerst prägnanten Geschmack auszeichnen, so inszeniert, dass es voll zur Geltung kommt.
Am besten zeigt sich das Problem an einem typischen Beispiel. Es gibt Kräutersalate, die sehr schön aussehen, aber nicht besonders differenziert schmecken, weil sie den Eigengeschmack der Produkte eher verstecken als deutlich machen. Der Grund für diesen produktfernen Ansatz ist in fast allen Fällen eine konventionelle Vinaigrette, die den Salat irgendwie zusammenhält, aber oft viel zu säuerlich, zu süßlich oder in anderer Weise zu stark ist. Sulpice hat eine „Salade d’herbes et fleurs sauvages“, welche die Kräuter deutlich anders zur Geltung bringt. Seine Vinaigrette besteht aus Apfelessig, Nussöl, gerösteten Zucchini-Kernen, Kümmel-Kernen und Stückchen von frischen Nüssen. In einer solchen Vinaigrette finden die verschiedenen Kräuter und Blüten (hier Sauerklee, wilder Sauerampfer, Giersch, Taubnessel und Gundermann) Unterstützung und Ergänzung und darüber hinaus genügend Raum für die Entwicklung ihrer jeweiligen Eigenart.
Die zweite entscheidende Frage bei der Arbeit mit Kräutern ist, wie weit man andere Aromen „herunterfahren“ muss, um auch unscheinbareren Kräutern Platz zur Entfaltung zu geben. Und hier, wo es also darum geht, Produkte so zu optimieren, dass sie auch dann tragen, wenn sie nicht von diversen anderen Aromen begleitet werden, braucht man den Spitzenkoch vielleicht noch mehr. Beim Steinbutt mit Mohnblüte gibt es ein gedämpftes Stück Filet, die angeflämmten Bart-Streifen (den äußeren, oft nicht genutzten Rand der Filets) und eine denkbar einfache Sauce, auf der Basis einer Infusion von Mohnblättern in Sahn. Das Ganze wird püriert und passiert und mit einigen rohen Blättchen serviert. Mit diesem Minimalismus arbeitet Sulpice häufig.
Am Anfang des Buchs stehen atmosphärisch dichte Bilder der Landschaft, deren Pflanzen Sulpice mit Hilfe des Kräuterspezialisten Stéphane Meyer erschließt. Diese Einzeldarstellung von 38 Pflanzen ist knapp, aber aufschlussreich, weil der Beschreibung durch den Spezialisten auch immer eine kulinarische Notiz des Kochs folgt. So wird beim Tüpfelfarn darauf hingewiesen, dass besonders seine an Süßholz erinnernde Wurzel von Bedeutung für die Küche ist.