Kochbuchkolumne „Esspapier“ : Ich begehre zu wissen, wo es Blaubeeren gibt
- -Aktualisiert am
Eine Entdeckung: Der Speierling aus der vielfältigen Sorbus-Familie Bild: picture alliance/WILDLIFE
Das Farbenspektrum der heimischen Obstarten wird unterschätzt: Helmut Pirc von der Baumschule in Schönbrunn lehrt uns sehen, sammeln und schmecken.
War es nicht einmal so, dass man Sachbücher kaufte, weil in ihnen Sachverstand abgebildet wurde, mit dessen Hilfe man Fortschritte machen konnte? Heute scheinen viele Kochbücher über eine Art projektive Trivialität zu funktionieren: Sie werden gekauft, weil der Inhalt nur unwesentlich vom eigenen Horizont abweicht. Wie Trivialliteratur – ist man versucht zu sagen.
Und dann kommt ein Buch wie das von Helmut Pirc, dem „Leiter der Abteilung Gehölzkunde und Baumschulwesen an der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau in Wien Schönbrunn“. Es ist eines der seltenen Crossover-Bücher: einerseits ein Lehrbuch, andererseits wegen der unprätentiösen, immer informativen Darstellung auch ein Buch für jeden interessierten Privatgärtner, - sammler und -koch. Neuerdings haben solche Bücher auch einen avantgardistischen Anstrich. Jeder, der sich für die unendlichen Perspektiven der Nova-Regio-Küche interessiert, wird dieses Buch verschlingen. Pirc präsentiert eine so unglaubliche Vielzahl von Arten, dass man manchmal glaubt, er habe einen neuen Kontinent entdeckt.
Ein Beispiel. Wenn normalerweise die „Heidelbeere“ auftaucht, scheinen alle das zu meinen, was man schon einmal in freier Wildbahn findet und sonst – meist in kleinen Behältern - im Handel. Bei Pirc geht es von der wilden Heidelbeere zur Kulturheidelbeere in einer Unzahl von Sorten (er spricht von „einigen Sorten“). Worauf man im nächsten Kapitel auf die „Azoren-Heidelbeere“ trifft und wenig später auf die Pinkbeere, gefolgt von Moosbeere und Moorbeere. Selbst professionelle Köche denken nur selten daran, dass es von fast jeder Obstgattung große Mengen von Varietäten gibt. Vom Apfel wissen wir das wenigstens im Ansatz.
Jenseits der industriellen Standardware
Nach und nach wird der Leser dieses Buches zu dem Eindruck kommen, dass er da doch noch sehr, sehr viel übersehen hat. Aber Pirc ist ein Lehrer, der gut erklärt und genau die Angaben macht, die man braucht, um sich das Wildobst nutzbar zu machen. Nehmen wir die ebenfalls nicht so bekannte Maulbeere. Einer allgemeinen Einleitung folgen - wie bei allen anderen Gattungen - die Abschnitte „Pflanzenmerkmale und Verbreitung“, „Blüte“, „Eignung“, „Frucht“, „Verwendung“, „Standortansprüche und Pflege“, „Medizinische Wirkung beziehungsweise Volksheilkunde“, „Krankheiten und Schädlinge“, „Vermehrung und Anzucht“ und dann „Sorten und Auslesen“, also wieder der Ausflug in eine Vielzahl durchaus unterschiedlich aussehender Sorten.
Staunend wird man erfahren, dass die Familie der Strahlengriffelgewächse (also Kiwi und Co.) eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Mitglieder hat, die bei weitem nicht alle „wie Kiwi“ schmecken. Man wird feststellen, dass es Unmengen verschiedener Nüsse gibt, die Persimone der Ebenholzfamilie entdecken oder die Speierlinge und anderes aus den vielfältigen Sorbus-Arten.
Die Fotos kommen wirklich auf den Punkt und bilden Typisches ohne jeden bildnerischen Firlefanz ab. Das zeigt, was Fotos „atmosphärischen“ Zeichnungen voraushaben. So eignet sich das Buch für Leute, die für ihren Garten nach neuen Gewächsen mit essbaren Früchten Ausschau halten oder sich unterwegs fragen, was man sammeln kann. Dann für Leute, die wissen wollen, was von den Früchten essbar ist und in welche Richtung die Verwendung gehen kann. Ideal ist es für Leser, die sich von der industriellen Standardware entfernen wollen und im Sinne einer deutlicher ausgeprägten Naturküche denken.
Helmut Pirc: „Enzyklopädie der Wildobst- und seltenen Obstarten“. Leopold Stocker Verlag, Graz und Stuttgart 2015. 416 S., geb., 39,90 Euro.
Dieses Buch erhält zwei F.A.Z.-Sterne.
Kriterien für die Vergabe von F.A.Z.-Sternen für kulinarische Bücher:
Einen F.A.Z.-Stern erhält ein kulinarisches Werk, dessen Veröffentlichung sinnvoll ist und das einen klar erkennbaren, positiven Beitrag zur Entwicklung, Weitergabe, Erforschung oder Dokumentation der Kochkunst leistet. Durch seine Individualität oder seine spezifischen Schwerpunkte schließt das Buch eine Informationslücke oder erhebt sich mit der handwerklichen, ästhetischen oder wissenschaftlichen Qualität seines Inhaltes deutlich über die üblichen Standards.
Im Falle eines Kochbuches im engeren Sinne müssen die Rezepturen und ihre Erläuterungen guten professionellen Standards genügen und erkennbar das Bemühen zeigen, Nachkochbarkeit zu erreichen. Standardisierte oder unpräzise Angaben sind nur dann akzeptabel, wenn sie durch andere Qualitäten wie etwa Originalität aufgewogen werden.
Zwei F.A.Z.-Sterne erhält ein kulinarisches Werk, das über die Qualitäten eines mit einem Stern bewerteten Buches hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Kochkunst leistet oder in seiner didaktischen Anlage hervorragend geeignet ist, vertiefende praktische Kenntnisse zu vermitteln - oder einen wesentlichen Beitrag zur Theorie des Faches leistet.
Es ist in dieser Kategorie wichtig, dass die Autoren erkennbar größere Zusammenhänge begreifen oder einen außergewöhnlich interessanten Beitrag zu Einzelaspekten leisten.
Drei F.A.Z.-Sterne erhält ein kulinarisches Werk von überragender Qualität, das zu den besten Büchern der letzten Jahre zählt und in jede gute kulinarische Bibliothek gehört. Das Buch muss in wesentlichen Teilen neue Inspirationen vermitteln, in hohem Maße originell sein, oder in besonders hohem Maße wesentliche Zusammenhänge erschließen.
Keinen Stern bekommen Bücher, die sich inhaltlich nicht oder nur unwesentlich von vielen vergleichbaren Büchern unterscheiden und/oder bei denen man den Eindruck gewinnt, es handele sich vorwiegend um Veröffentlichungen, die nicht primär an der Qualität des Buches und am Fortschritt der Kochkunst orientiert sind. Dazu gehören zum Beispiel viele ausschließlich kommerziell orientierte Produkte zur Vermarktung von Prominenten aller Art, aber auch letztlich austauschbare Bücher bekannter und guter Köche, bei denen ein individuelles Profil nicht zu erkennen ist.