Essays von John Green : Die Pest bekommt nur einen Stern
- -Aktualisiert am
Sie schicken den Autor auf eine Entdeckungsreise: Augusts Sanders „Jungbauern“ von 1914. Bild: August Sander Archiv, Köln
Ein Autor erfolgreicher Jugendbücher wechselt das Genre: John Green durchquert in Essays das Anthropozän auf der Suche nach Hoffnungsspendern für das 21. Jahrhundert. Dabei macht er sonderbare Entdeckungen.
Für griffige Buchtitel ist John Green seit seinen erfolgreichen Jugendromanen „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ oder „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ bekannt. Sein neues Werk ist ein Sachbuch, versammelt mehr als vierzig Kurzessays, die aus den populären Podcasts und Video-Blogs des Autors hervorgegangen sind, und trägt in der deutschen Übersetzung den schillernden Titel: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“ Im amerikanischen Original wurde der Name von Greens Podcast übernommen: „The Anthropocene Reviewed“.
Beide sind in ihrer halbironischen Vollmundigkeit gut gewählt. Mit Leichtigkeit fassen sie auch disparateste Themen unter einem Begriff zusammen, der einiges an zeitkritischem Potential verspricht. Wer Anthropozän hört, denkt: Klimawandel – und dieser ist dann auch eines der zentralen Motive des Buchs. Andere sind die Corona-Pandemie, Fußangeln der Ökonomie und die Begrenztheit des menschlichen Gehirns.
Vollkommen sinnlos ist es, typische Phänomene dieser schwer abgrenzbaren Epoche menschengetriebener Erdgeschichte mit einem Punktesystem zu bewerten. Das sieht auch John Green so, nutzt die zeremonielle Sternevergabe an Dinge wie digitale Velociraptoren oder Amerikas beliebteste Rasensorte, das Kentucky Bluegrass, aber trotzdem als ironisches Schlussmoment in seinen Essays. So macht er sich über ein Internetzeitalter lustig, das jede Parkbank bewertet: „Ich gebe dem Halleyschen Kometen viereinhalb Sterne.“
Schmaler Grat zwischen Sachbuch und persönlichem Erzählen
Zugleich entspricht dieser Bewertungs-Gag einem symbolischen Zugeständnis, denn Interaktivität und Schwarmintelligenz findet John Green durchaus gut. Alles andere wäre für einen Video-Blogger und Podcaster auch verwunderlich gewesen, und es hätte lächerlich gewirkt, hätte Green vorgegeben, sich all das nerdige Spezialwissen über Kanadagänse oder das Hotdog-Essen bei Nathans’ Famous ernsthaft angelesen zu haben. In einem Anmerkungsteil am Schluss nennt er artig seine Quellen und Zuarbeiter und zeigt, dass er die maßgebliche Literatur zum jeweiligen Thema zumindest zur Kenntnis genommen hat.
Einen entscheidenden Zug von Greens Essays lässt der Buchtitel nicht im Ansatz erkennen: die Verzweiflung, die manchmal abrupt aus Passagen voller wohliger Sentimentalität hervorbricht und sich gerade in der zweiten Hälfte des Buches ausbreitet – ein Ringen mit Depressionen und Ängsten, von denen John Green, wie er umstandslos erklärt („mir wurde klar, dass ich nicht mehr verschlüsselt schreiben wollte“), seit Kindheitstagen geplagt wird.
Die kuratorische Leistung ist nicht zu unterschätzen
Damit betritt er den schmalen Grat zwischen Sachbuch und persönlichem Erzählen. Übertreibt es Green mit der Introspektion und bleibt er – gerade bei seinen düsteren Stücken mit Corona-Bezug entsteht dieser Eindruck – naheliegende Objektivierungen schuldig, dann verfehlt er den Horizont vieler Leser und auch seinen eigenen, der, wie er stets betont, aufs Hoffnungspenden gerichtet sei. Bemerkenswert in jedem Fall, dass sich die Zugkraft von Greens Essays in den ausgestrahlten Podcasts bereits erwiesen hat. Ist das Anthropozän vor allem für seine jungen Bewohner deprimierender, als sie offen zugeben? Trifft Green deshalb einen Nerv? In Buchform muss sich sein Ansatz jetzt vor einem breiteren Publikum beweisen.
Im Grunde kreisen viele von Greens Essays um Fragen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Wie lerne ich, mit der Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit in der Welt klarzukommen? Eine Antwort suchte Green in jungen Jahren als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus. Doch die geballte Kontingenz der von ihm erlebten Sterbefälle warf ihn aus der Bahn. Er musste sich in ärztliche Behandlung begeben und fand, zugespitzt formuliert, erst wieder in der Kulturgeschichte Trost. Sein Buch ist gespickt mit oft wenig bekannten Zitaten von Dichtern und Denkern.
Die Essays verführen dazu, im Text Erwähntes online aufzurufen. Die Torwartleistungen von Jerzey Dudek und Bruce Grobbelaar wirken auf Youtube dann zwar weniger spektakulär, als Greens Beschreibungen erwarten lassen, doch Entdeckungen ergeben sich zuhauf – etwa der Band „The Mountain Goats“ oder des Filmbeginns von „Die Pinguine von Madagaskar“. Allein die kuratorische Leistung des Buchs ist nicht zu unterschätzen.
Im Buch befinden sich nur drei Abbildungen, alle umkreisen ein Motiv, das es John Green besonders angetan hat: die schon von Richard Powers in seinem Roman „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ verewigte Fotografie „Jungbauern“ von August Sander. Bemerkenswert, wie sich Green diesem berühmten Schnappschuss nähert, indem er verschiedene Bedeutungsebenen freilegt. Da sind drei junge Männer kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs auf dem Weg zum Wochenendvergnügen, das verrät das Datum. Mit ihren ungestellten Blicken überbrücken die herausgeputzten Männer mühelos einen Zeitraum von hundert Jahren.
An diesem Punkt hätte sich Green mit dem Bild begnügen können. Doch es hatte ihm noch nicht alle Fragen beantwortet. Green forschte weiter und wurde, unterstützt von der Online-Community „Tuataria“, schließlich in einem Zeitungsartikel von Reinhard Pabst fündig, in dem das weitere Schicksal der drei Männer erzählt wird, die, wie sich herausstellt, keine Bauern waren und vom Krieg unterschiedlich gezeichnet wurden. Green berichtet all das voller Begeisterung; mit Stolz präsentiert er zwei bisher unbekannte Fotografien der „Jungbauern“, die ihm Pabst zur Verfügung stellte.
Auf eine schnittige Lehre verzichtet Green im letzten Kapitel, knapp fasst er zusammen: „Alles Mögliche hätte passieren können, aber eines ist passiert.“ Und der Leser denkt: Das gab es vor dem Anthropozän tatsächlich nicht – dass ein amerikanischer Autor, er weiß nicht genau warum, sich in drei einfachen jungen Westerwäldern des Jahres 1914 wiederfindet, deren Lebensgeschichte mit hundertjähriger Verspätung von einem Kunstdetektiv freigelegt und von einem Recherche-Verbund übersetzt und ihm zugetragen wird. Verbindende Elemente sind die Begeisterung und Menschlichkeit. In einer Zeit, in der so viele Räder ineinander- greifen, müsste man eigentlich auch das Anthropozän in geeignete Bahnen lenken können.
John Green: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“ Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle und Violeta Georgieva Topalova. Hanser Verlag, München 2021.320 S., Abb., geb., 22 Euro.