E-Book-Kolumne „E-Lektüren“ : Die Erschütterbarkeit des Bewusstseins im Ernstfall
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Wir orientieren uns immer mehr an Wikipedia: Gregor Weichbrodts E-Book „I Don’t Know“ ist eins von den spannenden digitalen Literaturexperimenten. Bild: dpa
Während in den Bestsellerlisten gedruckter Bücher der massentaugliche literarische Realismus vorherrscht, werden im Digitalen Experimente gewagt. Die Ergebnisse sind ebenso unterhaltsam wie lehrreich.
Gedruckte Romane, die man auf Bestseller-Listen findet, sind in der Regel handzahm. Sie pfunden mit naturalistisch ausgemalten Szenen und filmreifen Dialogen, kommen ohne stilistische und kompositorische Risiken aus, sind leserfreundlich, massentauglich und machen Kasse. Und doch sind einige von ihnen angeblich nicht bloßes Entertainment, sondern Kunst. Verleger, Agenten, Kritiker und Juroren des deutschen Buchbetriebs begeistern sich derzeit am literarischen Realismus, als hätte es niemals Versuchsanordnungen wie „Zettels Traum“ gegeben. Um zum poetischen Experiment zurückzufinden, empfehle ich eine strikte Kino- und Fernsehfilmabstinenz sowie die exzessive Beschäftigung mit innovativen Computerspielen, interaktiven Werbekampagnen, Rubiks Zauberwürfel, Raymond Queneaus „Exercises de style“ – und literarischen Digitalprojekten.
Einerseits: Es gibt nichts Neues unter der Sonne, auch nicht auf der Insel der experimentellen Literatur. Von der Antike bis zur Gegenwart reichen die Versuche der Dichter, Form und Sprache zu erneuern, wobei Sinn und Gehalt im besten Fall entgrenzt, im schlimmsten grob vernachlässigt werden. Andererseits: Es gibt etwas Neues unter der Sonne, und zwar auf der Insel der experimentellen Literatur. Denn poetische Innovationen, die sich den Beschränkungen durch Papier und Einband widersetzen, finden im Digitalen neue Spielräume.
Gedruckte Experimente jetzt digital
Das gilt auch für jene Experimente, die zunächst oder gleichzeitig im Druck herauskommen. Die schwer nacherzählbaren „novels in a box“ zum Beispiel, Romane mit episodisch verkürzten Inhalten, die lineare Schreib- und Lesekonventionen außer Kraft setzen und sowohl als Loseblattsammlungen im Karton erschienen sind als auch digital, wie die Neuausgabe der 155 Seiten umfassenden „Composition No. 1“ des französischen Schriftstellers Marc Saporta aus dem Jahr 1962, die als Vorläufer der in sich verlinkten Hyperfiction gilt. Oder der anderthalb Kilo schwere, rund 400 Blatt starke Roman „XO“, der von einem Leipziger Autor unter dem Pseudonym Francis Nenik in der ed. cetera veröffentlicht worden ist. Die kostenlose PDF-Version erleichtert es, kreuz und quer durch „XO“ zu surfen. Und die iPad-App „Composition No. 1“ des Londoner Verlags Visual Editions zwingt mir einen rasend schnellen Bildlauf auf, den ich anhalten muss, wenn ich den Text nicht nur als visuelle Installation wahrnehmen will.
„Composition No. 1“ ist im Kern eine magere Dreiecksgeschichte, „XO“ zerfällt in stilistisch divergente Episoden, die weitgehend sinnentleert anmuten. Gleichwohl sind diese aleatorischen Projekte mehr als bloße intellektuelle Gags. Sie sind im tiefsten Wortsinn poetisch, da von ihnen eine Wirkung ausgeht, die sich der Sprache entzieht: Zeigen sie mir doch, wie ich reagiere, wenn ich den Faden verliere, mich verirre, nach Orientierung suche. Sie machen mir klar, wie erschütterbar mein Bewusstsein im Ernstfall ist. Weil diese Literatur kein „Es ist, wie es ist“ zulässt, ist sie vom Realismus so weit entfernt wie der Nord- vom Südpol.