Jules Renard (1864 bis 1910) gehört in die große, etwas obskure Truppe jener französischen Schriftsteller, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf einen unglaublichen Innovationsschub in Roman und Lyrik zurückblickten. Sie empfanden sich oft als Epigonen, sahen Erzählkunst und Lyrik in Erschöpfung und Krise, über die sie nicht konsequent hinauskamen. Sie führten fort oder experimentierten, und im besten Fall entstanden Werke, manchmal nur Passagen, die man als späte Blüten von Realismus, Naturalismus, Symbolismus sehen oder als erste avantgardistische Durchbrüche verstehen kann. Beides trifft auf Renard zu, der heute nur noch durch sein zum (mittlerweile ehemaligen) Schullektüre-Klassiker avanciertes Büchlein „Rotfuchs“ (1894) bekannt ist. Dabei lohnten seine durch Ravel vertonten „Histoires naturelles“ (Naturgeschichten, 1894) eine Wiederentdeckung.
In seinem erstmals 1925 bis 1927 in fünf Bänden postum (durch Henri Bachelin, nach einer Säuberung durch die Witwe) veröffentlichten Tagebuch zeigt sich Renard von seiner besten Seite. Anders, als man von einem Diaristen erwarten würde, berichtet er recht wenig von seinem Leben, auch wenn er ausführlich Zweifel und Selbstkritik entwickelt – Renard hält sich offenbar für gnadenlos faul. Ein Großteil der Einträge ist vielmehr Bildern und Überlegungen in Form von Aphorismen, Sentenzen, Miniaturen, Kleinstssays und ähnlichen kurzen Prosaformen gewidmet, die es Renard erlauben, Gedanken auf pointierte, überraschende, oft amüsante Weise zu formulieren, frei nach dem Motto: „Die flüchtige Idee beim Schopfe fassen und ihr die Nase auf dem Papier platt drücken.“ So notiert am 7. Mai 1891.
Themen sind die Natur, Landschaftsbilder – „Am Himmel eine kleine Wolke wie eine verirrte Gans“ (13. Juni 1897) –, Flora und Fauna, besonders jedoch das Gesellschaftsleben. Renard, der vom Vermögen seiner Frau lebt, hat sich in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts einen Namen als Schriftsteller gemacht, erringt dann Anerkennung in Form von Ehrenlegion und Mitgliedschaft in der Jury des kurz zuvor gegründeten Prix Goncourt. Obwohl er später eine Lokalpolitikerlaufbahn in der Provinz einschlägt, kennt er das Pariser Milieu und kommt häufig auf Kollegen zu sprechen, etwa auf Barrès, Blum, die Daudets, Gide, Mallarmé, Rostand, Schwob, Zola. Oder auf Maler – eindrücklich die Zeilen zu Toulouse-Lautrec. Mit George Sand („die bretonische Kuh der Literatur“) und Cézanne („Zimmermann der Farbe“) muss man Mitleid haben, ebenso mit Alfred Jarry, den er für kindisch hält, obwohl er Renards Interesse für Radfahren und Jagd teilt; viele andere werden zumindest vordergründig gut behandelt. Es berühren Renards andauernde Liebe zu seiner Frau und sein Umgang mit dem eigenen frühen Altern.
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