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Der Fall Emil Nolde : Wir haben das Falsche gelernt

„Zwei Männer“ heißt dieses Nolde-Aquarell aus den dreißiger Jahren. In der „Deutschstunde“ nutzt Siegfried Lenz das konfrontative Moment des Bildes für seine Duell-Situation zwischen dem Polizisten und dem Maler. Bild: www.bridgemanart.com

Generationen von Deutschen erfuhren aus der „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, wie sich ein Künstler gegen die Nazis stellte - innerlich. Doch die Wirkungsgeschichte des Romans muss umgeschrieben werden.

          9 Min.

          Was passiert mit einem Roman, dem mehr als vierzig Jahre nach dem Erscheinen seine zentrale Figur abhanden kommt – und damit auch die innere Balance, ein Gutteil an Glaubwürdigkeit? Welche Konsequenzen hat das für uns, die Leser, zu deren literarischer Grundausstattung das Buch gehört? Was bedeutet es für den inzwischen hochbetagten Autor, dessen internationaler Ruhm sich auf dieses Werk gründet, der zu den beliebtesten in unserem Land zählt und eine Instanz des Humanen ist? Und welche Folgen hat das für die deutsche Literatur seit 1945, zu deren tragenden Säulen der Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz gehört?

          Jochen Hieber
          Freier Autor im Feuilleton.

          Im Zentrum der Handlung steht der Kampf zweier Männer. Jens Ole Jepsen gegen Max Ludwig Nansen. Dorfpolizist gegen Kunstmaler. Gesetzeshüter gegen Freigeist. Staatsmacht gegen Individuum. Das Duell beginnt zur Mittagszeit an einem Aprilfreitag des Jahres 1943. Da steigt Jepsen im fiktiven Rugbüll unweit der dänischen Grenze auf sein Dienstrad, fährt über den Deich nach Bleekenwarf, einem alleinstehenden Gehöft, und übergibt Nansen eine Verfügung aus Berlin, die dem Maler – „dem Volkstum entfremdet und entartet“ – das Malen verbietet. Er, teilt Jepsen mit, überbringe das Verbot nicht nur, sondern habe es auch zu überwachen. Das sei seine Pflicht. „Dann behalt mich mal im Auge“, sagt der Maler. „Sollst nur abwarten, Max“, entgegnet der Polizist.

          Der Kampf zweier Männer in finsterer Zeit

          Ständig streicht er nun um Wohnhaus, Scheune, Atelier und Gartenhütte. Bald hat er einen neuen Berliner Befehl in der Tasche, der ihm aufträgt, Nansens Bilder aus den vergangenen zwei Jahren zu konfiszieren. Dann erstattet er bei den Vorgesetzten in Husum Anzeige, weil der Künstler trotz Bombenalarms die Fenster nicht ordnungsgemäß verdunkelt. „Zwei Ledermäntel“ werden nach Bleekenwarf begleitet, Gestapoleute, die Nansen in ihr Auto verfrachten. Vom Verhör zurück, schweigt der Maler über das Geschehene. Aber er malt weiter, wenn es sein muss sogar Bilder, die nur in seinem Kopf existieren, also für alle anderen, zumal für Jepsen, „unsichtbar“ sind.

          Zur größten Niederlage für den Polizisten werden schließlich weder die deutsche Kapitulation im Mai 1945 noch seine Internierung durch die Engländer, aus der er man ihn bald wieder entlässt – entnazifiziert, aufs Neue dienstbereit und dienstbefähigt. Die größte Niederlage bereitet ihm sein Sohn Siggi, am Beginn des Romans zehn Jahre alt. Vom Polizeiposten Rugbüll zu Spitzeldiensten beim Maler angehalten, entfernt und entfremdet sich das Kind immer entschiedener vom Vater – allerdings um den Preis der fixen Idee, dass Kunstwerke stets und überall bedroht seien, und er, Siggi, sie stets und überall retten müsse. So wird er als Jugendlicher zum Bilderdieb und landet in einer Strafanstalt. Im Gegenzug befördert ihn der Autor Siegfried Lenz zum Ich-Erzähler des Romans mit der Geschichte vom Kampf zweier Männer in finsterer Zeit: Jens Ole Jepsen gegen Max Ludwig Nansen.

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