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Dantes Verse : Der erste Rücktritt

Dantes Verse Bild: Natascha Vlahovic

Womit uns Benedikt XVI. verblüffte, das hatte Dantes Zeit noch von einem anderen Papst vor Augen. Geschätzt hat sie den Rücktritt nicht.

          2 Min.

          Der feige tat den großen Amtsverzicht.

          Hannes Hintermeier
          Feuilleton-Korrespondent für Bayern und Österreich.

          che fece per viltà il gran rifiuto.

          (Inferno III, 60, übersetzt von Wilhelm G. Hertz)

          Wenn Dichtung Figuren der Zeitgeschichte sich einverleibt, nimmt das Genre ge­legentlich seltsame Abzweigungen. Was 1294 geschah, kam nicht nur dem Endzwanziger Dante ungeheuerlich vor. Als es sich 2013 wiederholte, wurde zuerst in der Kirchengeschichte gekramt, ob es so etwas schon einmal gegeben habe – dass ein Papst freiwillig auf sein Amt verzichtet. Coelestin V. war es, dem diese Premiere gelang. Der Bauernsohn aus den Abruzzen, bürgerlich Petro Angeleri, lebte als Eremit nach einer verschärften Benedik­tiner-Regel im Majella-Massiv, gründete 1244 den Orden der Coelestiner, über­siedelte auf den Höhenrücken Morrone nahe Sulmona.

          Er baut die Kirche Santa Maria di Collemaggio, wird schon zu Lebzeiten als Heiliger verehrt, und hat das Pech, im Kampf der Orsini gegen die Colonna nach zweijähriger Sedisvakanz als Kompromisskandidat für das Papstamt vorgeschlagen zu werden. Als die Wahl tatsächlich auf ihn fällt, flieht er in Panik, immerhin ist er schon Mitte achtzig, ein klapperdürrer Greis. Man stimmt ihn um, in Aquila wird er am 5. Juli 1294 gekrönt. Rom hat er nie betreten, und lange währt sein Papsttum nicht, am 13. Dezember des gleichen Jahres erklärt er seinen Amtsverzicht, ein Kardinal namens Gaetani hat in einem Gutachten dargelegt, dieser Schritt sei möglich – was Dante davon hält, lesen wir in seinen Versen. Als er mit der Niederschrift der Commedia beginnt, ist der Einsiedler vom Morrone schon seit mehr als zehn Jahren tot, doch 1313 kommt die Kunde von der Heiligsprechung Coelestins.

          Dichtung und Topographie, das ist eine der Spezialitäten des Dante-Kenners Arnold Esch. „Poesie und Meilensteine in Einklang zu bringen erfordert einige Akrobatik“, schreibt Esch in seinem Buch „Von Rom bis an die Ränder der Welt“. Man darf behaupten, dass dieser mit GPS und einer riesigen Bibliothek im Kopf ausgestattete Inwendigkenner Italiens ein Meister dieser Disziplin ist. Folgt man ihm von Rom nach Südosten, erreicht man nach guten neunzig Meilen die Heimatstadt eines anderen Titanen der Weltliteratur: Ovids Geburtsort Sulmona. Dort pirscht sich Esch an einen Schauplatz des Inferno heran: Den Hang des Morrone erklimmend, erreicht er „die Einsiedelei von Pietro Angeleri, ,Peter vom Morrone‘, den man zu kurzem, unglück­lichem Pontifikat dort herunterholte, bis er im gran rifiuto (Dante, Inferno III, 60), seiner ,großen Verweigerung‘, noch im gleichen Jahr der Welt wieder entsagte“. Ovid, der bei Dante prominent auftritt, ist auch hier nah: „Und, sehr bedeutungsvoll, senkrecht unter der Eremitage die gewaltigen Terrassenanlage eines römischen Heiligtums, dem des Hercules Curinus.“ Die mittelalterlichen Bewohner Sulmonas, schreibt Esch, seien davon überzeugt ge­wesen, Ovid habe hier seine Liebestränke gebraut.

          Wir Heutigen kommen nicht umhin, an Joseph Ratzinger, vormals Papst Benedikt XVI. zu denken, der 719 Jahre nach Coelestin V. ebenfalls den Amtsverzicht wählte. Mit einer ähnlichen Begründung wie jener – Demut, Sehnsucht nach Ruhe, Gebrechlichkeit. Anders als Coelestin nahm Ratzinger den Titel eines Papa emeritus an, den man bis dato gar nicht gekannt hatte, und verkaufte seinen Rücktritt zum Grausen der Traditionalisten als Modernisierungsmaßnahme für das Papstamt. Gäbe es ihn, wie würde ein Dante unserer Tage diesen Stoff behandeln?

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