Dantes Verse : Vorahnung von Einstein
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Bild: Natascha Vlahovic
Erst mehr als fünfhundert Jahre nach Dantes Tod wurde die Analogie zwischen seiner Kosmologie und der nichteuklidischen Geometrie entdeckt, auf der Einstein seine Theorie aufbaute.
Einen Punkt sah ich, der strahlte Licht.
un punto vidi che raggiava lume
(Paradiso XXVIII, 16)
Was Dante hier und in den folgenden Versen beschreibt, ist erstaunlich. Es ist der Moment, in dem Dante nach seiner Wanderung durch die Kreise der Hölle, des Fegefeuers und des Paradieses zum ersten Mal auf Gott schaut. Im Canto XXVII des Paradiso waren Dante und Beatrice am Primum mobile angelangt, dem äußersten Bezirk des astronomischen Kosmos. Er liegt hinter jener fernsten Himmelssphäre, an der die Fixsterne angeheftet sind. Als Ursache für alle Bewegungen der Gestirne rotiert er am schnellsten, während die Sphären nach innen hin immer langsamer werden, bis die Erde im Mittelpunkt sich gar nicht mehr bewegt.
Am Beginn von Canto XXVIII nun blickt Dante vom Primum mobile aus aufs Empyreum. Das ist ein weiteres System konzentrischer Sphären. Statt von Gestirnen ist es von Engeln und Heiligen immer höheren Ranges bevölkert. Ihre Heiligkeit steigt mit schwindendem Radius ihrer Sphären, die sich zudem immer rascher ums Zentrum des Empyreums drehen: jenen strahlenden Punkt, den Sitz des dreieinigen Gottes, von dem Beatrice erklärt (XXVIII, 41 f.): „An diesem Punkte hängt der Himmel und die gesamte Natur.“
Mathematiker würden es heute eine Hypersphäre nennen
Es gab Versuche, dies zu visualisieren. Zuweilen sieht man dann die Sphären des Empyreums als zweidimensionale Kreise auf einer zum dreidimensionalen Primum mobile tangentialen Ebene dargestellt. Dem widerspricht aber unter anderem eine vorangehende Stelle (Canto XXVII, 100–102), wo Dante erklärt, ihm wäre diese Aussicht auf das Empyreum auch zuteilgeworden, hätte Beatrice ihn auf irgendeinen anderen Punkt des Primum mobile geführt. Offenbar haben wir es mit zwei analogen Sphärenscharen zu tun: eine mit Gott als Mittelpunkt und Ursprung beider Sphären – und eine mit der Erde im Zentrum, an deren Mittelpunkt, in größtmöglicher Gottesferne, Satan haust.
Unsere Schwierigkeiten, uns die Geometrie dieses Kosmos vorzustellen, dürfte damit zusammenhängen, dass das, was Dante hier beschreibt, als etwas aufgefasst werden kann, was Mathematiker heute eine Hypersphäre nennen, genauer eine 3-Sphäre: die dreidimensionale Oberfläche einer vierdimensionalen Kugel mit dem Primum mobile als Äquivalent zu dem, was auf einer 2-Sphäre wie der Erdoberfläche der Äquator ist. Die vierte Dimension hat obendrein eine Richtung: Sie entspringt bei Gott und läuft zu unserem Hier und Jetzt auf der Erde. Es ist ein gekrümmter Raum mit so etwas wie einer Kausalitätsstruktur und entspricht damit einer kosmologischen Lösung der Feldgleichungen in Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie.
Freier denken
Der erste Dante-Leser, dem dies auffiel, war wahrscheinlich der russische Mathematiker und orthodoxe Theologe Pawel Florenski (1882 bis 1937). 1979 veröffentlichte der amerikanische Physiker Mark Peterson eine eingehende Analyse der Analogie zwischen Dantes Kosmologie und der nichteuklidischen Geometrie, auf der Einstein seine Theorie aufbaute und die erst mehr als fünfhundert Jahre nach Dantes Tod entdeckt wurde. War Dante also auch ein mathematisches Genie?
Eher dürfte zutreffen, was der amerikanische Komparatist William Egginton 1999 zur Diskussion stellte: Demnach hatte die unsere Anschauung bis heute prägende Vorstellung eines sich nach drei Richtungen ins Unendliche erstreckenden flachen euklidischen Raumes, die sich im siebzehnten Jahrhundert etablierte, entscheidenden Anteil an der Herausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Deren Erfolgsstory – zusammen mit der Geringschätzung alles Mittelalterlichen durch die Aufklärer seit Francis Bacon – machte den euklidischen Raum zum einzig denkmöglichen und setzte damit der menschlichen Vorstellungskraft eine harte Grenze, die erst im neunzehnten Jahrhundert mühsam und mit den Mitteln der abstrakten Mathematik aufgelöst werden konnte. Dante als mittelalterlicher Mensch konnte hier freier denken.
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