Dantes Verse : Konglomerat der Huren
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Bild: Natascha Vlahovic
Unter den vielen Verdammten im Inferno gibt es eine mit einer Sonderrolle: die Hetäre Thais. Wie aus dieser historischen eine Romanfigur wurde, ist ein besonders schönes Detail.
Das ist Thais, die Hure. Als die von ihrem Freier gefragt
wurde: „Habe ich große Chancen bei dir?“, da antwortete
sie: „Sogar die tollsten!“
Taidè è, la puttana che rispose
al drudo suo quano disse „Ho io grazie
grandi appo te?“: „Anzi maravigliose!“
(Inferno XVIII, 133–135, übersetzt von Hartmut Köhler)
Wer schmeichelt, wird verdammt. Dabei reicht Dante schon ein patenter Enthusiasmus, um ein Nachleben im „Übelgraben“ (August Vezin) mit den Betrügern zu fristen. Als Sinnbild der Schmeichelei tritt Thais, die Hure, dem Dichter und seinem Begleiter vor Augen. Für Dante ist der Name selbsterklärend, doch hinter diesem Namen tut sich ein Konstrukt auf, das seit dem vierten Jahrhundert vor Christus ausgebildet wurde, historische wie literarische Figuren beinhaltete und noch nach Dante eine schillernde Karriere machte.
Thais war eine Hetäre im Tross Alexanders des Großen. Gemäß den sicher nicht historischen, aber effektvollen antiken Berichten forderte sie während des Siegesbanketts in Persepolis Rache für die persischen Angriffe auf ihre Heimat Athen. Mit der Fackel in der Hand verhöhnte sie Alexander, die Frauen im Tross würden mehr als seine Kommandeure zustande bekommen – und der Palast brannte. Diese provokante Thais ist noch bei Marlowe und Dryden und schließlich in Joshua Reynolds Porträt der Londoner Kurtisane Emily Warren (1781) zu sehen, die selbst in Flammen zu stehen scheint.
Frei sind unsere Ausschweifungen
Die historische Thais entwickelte schon in der Antike ein Eigenleben, das nur bedingt mit der Athenerin zu tun hat: Von Hipparchos und Menander sind gleichnamige Komödien belegt, bei Lukian taucht sie pragmatisch-geschäftstüchtig in den Hetärengesprächen auf, Athenaios gibt ihre Ondits wieder und zeigt sie als wortgewandt und gebildet. Obwohl die römische Kultur kein Hetärenwesen wie in Griechenland kannte, kam auch sie nicht ohne eine Thais aus. Besonders Plautus arbeitet mit der Figur der meretrix mala, die ihre Liebhaber ausnimmt und gegeneinander ausspielt. Terenz erhebt Thais zu einer Hauptfigur seines Eunuchen und erschreibt eine meretrix bona, die Hure mit dem Herzen aus Gold, die dafür sorgt, dass die versklavte Pflegeschwester freikommt. Die meretrix wird zur fautrix, zum guten Schutzgeist – was Thais nicht davon abhält, am Ende mit zwei Freiern – einem zahlenden Prahlhans und einem liebenden Habenichts – die Bühne zu verlassen. Bei Ovid steht Thais für Sexualität und Lust, für Ehefrauen wie Andromache seien seine „Remedia Armoris“ nichts: „Thais ist in meiner Kunst, frei sind unsere Ausschweifungen.“ Ähnlich sieht es Martial, der in seinen Epigrammen ihre Künste ausführt.
Im vierten Jahrhundert erfährt die Thais-Erzählung eine Wendung: In Ägypten entsteht die Legende um eine schöne, reiche Prostituierte, die durch den Bischof Paphnutius zum Christentum bekehrt wird und als Eremitin büßt. Die Heiligenlegende findet besondere Verbreitung durch die Bearbeitung von Hrosvit von Gandersheim im zehnten Jahrhundert, die die Conversio der Hure als Abkehr vom Reichtum feiert und damit im dreizehnten Jahrhundert Thais’ Eingang in die „Legenda Aurea“ den Weg ebnet.
Die Spannung zwischen zerstörerischer Sinnlichkeit und Askese
Um 1400 blickt Dante, der in seinem Werk das gesammelte Wissen seiner Zeit darstellen will, zurück auf ein komplexes historisch-literarisches Hurenkonglomerat, und doch verkürzt er es auf die Schmeichelei. Für seine Thais variiert er ein auf Terenz’ Komödie zurückgehendes Zitat Ciceros, in dem dieser den heuchlerischen Überschwang des genretypischen Schmarotzers kritisiert, und legt es der Hure in den Mund. Dass das Geschäftsmodell der Schmeichelei mindestens so viel über den Geschmeichelten wie über die Schmeichlerin aussagt, ignoriert Cicero ebenso wie Dante. Letzterer lässt Thais sich mit kotigen Fingern das Gesicht zerkratzen; ihre eher harmlose Antwort macht sie im Inferno zum Ungeheuer.
Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird die Spannung zwischen Hure und Eremit, zerstörerischer Sinnlichkeit und Askese von Anatole France in seinem Roman „Thaïs“ ganz anders aufgelöst. Fans von Jules Massenets gleichnamiger Oper (1894) leiden bis heute mit der reuigen Hure und dem sich schließlich, aber zu spät der Liebe ergebenden Mönch Athanaël. Das Konglomerat Thais zeigt die Breite der Möglichkeiten dieser Figur und der wechselnden Frauenbilder von der wortgewandten Hetäre und der Rächerin Athens zur raffinierten femme fatale und pragmatischen Geschäftsfrau, von der Hure mit dem goldenen Herzen zur reuigen Dirne. Am 8. Oktober gedenkt die katholische Kirche der Heiligen Thais, bei Dante büßt sie dagegen im achten Kreis der Hölle.
Ann-Cathrin Harders lehrt alte Geschichte in Bielefeld.
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