Bücher : Vermessung eines Erfolgs
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Bestseller: Daniel Kehlmann Bild: ddp
Für die deutsche Literatur ist es eine Sensation: Von der „Vermessung der Welt“, dem Roman des jungen Schriftstellers Daniel Kehlmann, sind fast vierhunderttausend Exemplare verkauft worden. Wie ist das zu erklären?
Nicht heimlich durch die Hintertür, doch ziemlich still und leise schickt Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ sich an, zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der letzten Jahre, ja der Nachkriegszeit, des Beginns der Beliebtheitsmessungen, zu werden.
Seit seinem Erscheinen Ende September steht das Buch auf der Bestsellerliste des „Spiegel“, wo es zwar rasch den zweiten Rang erklomm, aber der Dauerbrenner „Harry Potter“ an der Spitze davon ablenkte, daß sich hier ein Erfolg anbahnte, wie ihn die deutsche Literatur nur selten erlebt.
Seit zwei Wochen steht Kehlmanns Roman nun an erster Stelle, und neue Bücher, etwa von Salman Rushdie oder John Irving, dürften sich nur langsam heranrobben. Bald vierhunderttausend Exemplare des Buchs hat der Rowohlt Verlag bisher verkauft; die Auslandsrechte sind in fast zwanzig Länder vergeben, darunter nicht nur die wichtigen europäischen Nachbarn, sondern auch das in literarischer Hinsicht notorisch schwer zu erobernde Amerika, wo Pantheon Books den Roman im Sommer veröffentlichen will.
Süskind ist unerreichbar
Das ist in Zeiten der allgemeinen Klagen über den Zustand, die Themen und die breite Erfolglosigkeit der deutschen Literatur eine Sensation. Zwar ist Patrick Süskinds im Diogenes Verlag erschienenes „Parfum“ mit mehr als vier Millionen verkauften Exemplaren allein im deutschsprachigen Raum unangefochtener Spitzenreiter unter den deutschen Romanen; zwar hat sich Reclam Leipzig mit den 1,3 Millionen Exemplaren von Robert Schneiders „Schlafes Bruder“ lange über Wasser gehalten, und haben Luchterhand und Steidl „Die Blechtrommel“ von Grass mehrere Millionen Male verkauft, während Kiepenheuer & Witsch Schätzings „Schwarm“ schon als gebundene Ausgabe neunhunderttausendmal absetzte. Doch schon jetzt ist abzusehen, daß Kehlmanns Roman in dieser Reihe seinen Platz finden wird.
Der erste Schlüssel zum Geheimnis des Erfolgs liegt immer in der Qualität - oder ihrer eklatanten Abwesenheit. „Die Vermessung der Welt“ erzählt auf so kluge wie amüsante, auf so gebildete wie unterhaltsame Weise die Geschichte eines Gipfeltreffens unserer Kulturgeschichte. Im Jahr 1828 begegnen sich Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß in Berlin. In Rückblenden erzählt Kehlmann die wichtigsten Episoden aus dem Leben des Entdeckungsreisenden und des Mathematikers. Das ist komisch, anrührend und mit solcher mühelosen Lebendigkeit geschildert, daß aller Staub, den die Epoche für Klassikmuffel angesetzt haben mag, wie fortgeblasen ist - zumal die beiden so unterschiedlichen Gelehrten aufgrund ihres Genies, ihrer Welterkenntnis und nicht zuletzt ihrer deutschen Art viel mehr gemeinsam haben, als sie wahrhaben wollen.
Heidenreichs Empfehlung
Die Kritik hat den Roman einhellig gefeiert; Elke Heidenreich hat ihn in ihrer Sendung frühzeitig und emphatisch empfohlen. Der Grund für den anhaltenden, anschwellenden Erfolg aber dürfte nicht allein in dieser Art guten Zuredens liegen.
Hans Magnus Enzensberger, dessen großes Humboldt-Projekt geholfen haben mag, den „Rezeptionsboden“ für Kehlmanns Roman zu bereiten - der übrigens bereits so gut wie fertig war, als der prächtige „Kosmos“-Band im September 2004 erschien -, sieht den Grund für den Erfolg seines jungen Kollegen in dem wachsenden Bedürfnis, „aus einem Buch etwas zu entnehmen, was man noch nicht wußte“. Seiner Ansicht nach herrscht eine gewisse Ermüdung über Romane, die immerzu Ereignisse von „fernsehserienartiger Bekanntheit“ repetieren, also Seitensprung, Familienzwist oder Sinnkrise.
Eine fremde Welt
Zu oft sei aus der Belletristik jenseits solcher postmoderner, durchaus anspruchsvoll geschilderter Spielchen nichts Neues zu erfahren, weshalb immer mehr Leser zu Sachbüchern griffen. Kehlmanns Roman hingegen und, „als Trivialversion“, auch Bücher wie „Das Sakrileg“ eröffnen dem Leser eine fremde Welt, in der er sich zur Abwechslung endlich einmal nicht selbst wiedererkennen kann. Sachhaltigkeit hat einem Roman eben noch nie geschadet, wie die Weltliteratur zeigt: Schon bei Balzac kann man schließlich allerhand über die Börse lernen.
Auch Kehlmanns Verleger, Rowohlt-Chef Alexander Fest, betont die Einzigartigkeit des Romans in der deutschen Gegenwartsliteratur. Den besonderen Erfolg sieht Fest vor allem darin begründet, daß sich „Die Vermessung der Welt“ auf viele verschiedene Weisen lesen läßt. So spreche das Buch keineswegs allein die literarisch interessierten Leser an. Früher hätte man ein solches Werk als „Buch des Bildungsbürgertums“ bezeichnet, also als Lektüre einer Schicht, deren Schrumpfen nicht nur die Verlage seit Jahren schmerzhaft zu spüren bekommen. Daß dieser Roman eine viel größere Leserschaft fasziniere, habe sich schon gezeigt, als die Buchhändler im Sommer das Leseexemplar erhielten und begeisterte Rückmeldungen auch von jenen kamen, die sonst vor allem Sachbücher verschlingen.
In all seinen Büchern - „Die Vermessung der Welt“ ist das sechste Werk des Dreißigjährigen - beschäftigt sich Kehlmann mit Menschen von außergewöhnlicher Intelligenz, die auf höchst unterschiedliche Weise herauszufinden suchen, was die Welt zusammenhält. Die Konzentration, Lust und Meisterschaft, die er dabei an den Tag legt, wird nicht allein von der deutschen Leserschaft bemerkt und belohnt. Das rege Interesse ausländischer Verlage beweist, daß es sich nicht nur bei Humboldt und Gauß um Personen von globalem Interesse handelt, sondern auch bei dem Schriftsteller, der sie auf so mitreißend beobachtende, doch nie voraussetzungsreiche Art zusammengeführt hat.