Thomas Meinecke : Mit Glitzer im Gesicht
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Thomas Meineckes München ist ein historisch wie geographisch so verkomplizierter Haufen, dass es nur zum Teil in Bayern liegt. Achternbuschs Lieblingsgasthaus, Fassbinderdrehorte, aufgeweichter Popkatholizismus und Spuren der Anarchie. Von hier aus liegen die „Realitätscliffhanger“ von „Selbst“, wie Meinecke sie nennt, überraschend nah: Denn Redaktionsschluss war schon Anfang 2015, und so protokolliert „Selbst“ vielmehr jüngste, leicht verschobene Vergangenheit als totale Gegenwart. Viele der im Buch eingespielten Mediengeschichten haben inzwischen längst neue Wendungen bekommen. Die Rapperin Mykki Blanco zum Beispiel, die in „Selbst“ ausführlich zu Wort kommt, hat gerade ein paar Tage zuvor ihr Album „Mykki“ veröffentlicht. Wir gehen in Meineckes Stammplattenladen und hören mal rein und wissen beide noch nicht so richtig. Trotzdem kauft Meinecke eine Vinylpressung des Albums. Er erzählt, wenn er auf neuen Pop stoße, gehe er immer erst mal davon aus, dass der Pop es ist, der zukunftsweisend recht hat, und sich eher die Frage stellt, ob er als gerade alt werdender Mann so sehr vor ihm besteht, dass er ihn mögen kann. Und bis jetzt geht’s noch! Strategischer Optimismus gegen die Sloterdijkisierung des Abendlands.
Der beste Track von „Mykki“ ist für mich „Highschool Never Ends“. Das Video zum Song inszeniert in einem ostdeutschen Kaff eine herzzerreißende Love Story zwischen Mykki, die mit bürgerlichem Namen männlich Michael heißt, und einem wunderschönen jungen Nazi-Skin. Wie völlig drüber plötzlich diese Ambivalenz getanzt wird, und doch ist alles so klar! Wie – im besten Sinne – einfach es ist, über diese vermeintlich so ganz andere Transbeziehung zu weinen!
Eine vorsichtig entdeutschte Geschichte Deutschlands
Jetzt heule ich schon wieder abseits vom Buch – aber immer noch in der Nähe, die „Selbst“ sucht. Eine intensive Zone, in der sich seltsamste Übertragungen ereignen: Vor dem Hintergrund von Mykkis sexy Verzweiflungschoreographien wiedergelesen, hat auch Bettina von Arnim, deren Briefe eine weitere Zitatebene des Buchs bilden, plötzlich „Glitzer im Gesicht“, wie Meinecke selbst überrascht feststellt. Sie taucht als unerwartete, queere Heldin auf. Eine vorsichtig entdeutschte Geschichte Deutschlands, die sich außer in den Briefen Bettina von Arnims zum Beispiel in den kommunistischen Siedlungen deutscher Aussiedler in Texas abspielt: In der Science-Fiction, zu der „Selbst“ die zitierten Texte addiert, wird sie möglich.
Beeindruckend, wie disparat und trotzdem selbstverständlich „Selbst“ und das dazugehörige Lesen zusammengesetzt sind. Wenn man die in ihrer Form unberührten, im Roman fast schon herumstehenden Fremdtexte vor sich hat, kommt fast der Eindruck auf: „Selbst“ ist keine Leseliteratur, sondern ein objekthafter Knotenpunkt, den es in seiner Widersprüchlichkeit einfach gibt und der dafür nichts von mir braucht. Und das macht großen Spaß und ist dann auch wieder langweilig, egal! Das gibt es jetzt. Aber – und das ist das, was überhaupt nicht selbstverständlich ist – „Selbst“ muss da alleine rumstehen. In seiner Isolation in der Romanlandschaft erinnert das Buch eben auch daran, was es alles nicht gibt. Nach wie vor absurd: dass der deutsche Literaturbetrieb feministische, schwierige, popaffine Prosa einzig und allein bei Thomas Meinecke bezieht. Dass es „Selbst“ gibt, heißt in erster Linie, dass es noch viel mehr davon – und sehr anderes auch! – geben muss. Müsste! Muss! Das Geben hat sich hier noch lange nicht erschöpft.