Andreas Mayer: Wissenschaft vom Gehen : Und wenn ich geh, dann geht nur ein Teil von mir
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Bild: S. Fischer Verlag
Physik und Wille in seltenem Einklang: Bei seiner Darstellung der menschlichen Fortbewegung nimmt der Wissenschaftshistoriker Andreas Mayer zu früh einen Gang heraus.
Bekannt ist die kleine Geschichte vom Tausendfüßler, der gefragt wurde, wie er das eigentlich mache: Mit tausend Füßen gehen. Bis dahin hatte er nie Probleme mit seinem Gang gehabt; doch als er jetzt nachzudenken begann, kam er mit seinen vielen Füßen nicht mehr zurecht und stolperte fortan durchs Unterholz. Obwohl wir Menschen längst nicht so üppig befußt sind wie die Tausendfüßler, geht es uns nicht viel anders als ihnen. Wir denken nicht über unser Gehen nach; warum sollten wir auch: Es klappt ja in aller Regel ganz gut.
Und wenn wir dann nachdenken, beginnen die Verlegenheiten. Wir vermögen nicht zu sagen, wie wir es anstellen zu gehen; und je angestrengter wir es herauszufinden versuchen, desto unsicherer und ungelenker wird unser Gang. Aus dem Tanzkurs ist dieser Effekt wohlbekannt: Solange wir die neu gelernten Tanzschritte bewusst auszuführen versuchen, bleiben sie steif und tapsig. Das richtige Tanzen beginnt erst, wenn das Denken aufhört.
Wie das Bürgertum eine eigene „Gehkultur“ erfand
So weit geht es uns also nicht viel anders als den Tausendfüßlern. Aber wir Menschen haben einen Trick erfunden, mit dem wir dann doch allerhand über unser Gehen herausfinden können, ohne dabei ins Stolpern zu geraten. Wir denken nicht über unser jeweils eigenes Gehen nach, sondern beobachten das unserer Mitmenschen. Die dadurch entstehende Distanz zum Gegenstand unseres Wissensdranges verhindert nicht nur, dass der Wissen-Wollende ins Stolpern gerät, sondern ermöglicht auch einen objektivierenden Zugang; das Gehen erscheint nicht länger als etwas, in das wir selbst involviert sind, sondern als ein beliebiger, fremder Vorgang.
Dass es sich bei dieser Verfremdung um einen „Trick“ handelt, ist natürlich eine grobe Simplifizierung. Denn tatsächlich war eine Fülle von kulturellen, theoretischen und methodischen Voraussetzungen zu erfüllen, damit ein so gewöhnlicher und (scheinbar) simpler Vorgang wie das menschliche Gehen zum Gegenstand einer systematischen Forschung werden konnte. Wie Andreas Mayer uns in seinem Buch wissen lässt, wurden einige dieser Voraussetzungen im achtzehnten Jahrhundert geschaffen, als das selbstbewusster werdende Bürgertum eine eigene „Gehkultur“ erfand, mit der es sich von der Welt des Adels abgrenzte.
„Theorie des Gehens“
Während der Aristokrat in der Kutsche fuhr, ging der Bürger zu Fuß. Nicht nur Rousseau erklärte den Spaziergang im Freien und die Fernreise zu Fuß zur natürlichsten und besten Form der Fortbewegung: Sie bringe den gehenden Menschen in Kontakt mit der Natur und mit anderen Menschen, sie stärke seine Kraft und seine Gesundheit. Aber auch das Militär interessierte sich verstärkt für das richtige Gehen, freilich nicht der Bürger, sondern der Truppe. Das Marschieren wurde zum Gegenstand rationaler Erörterungen, die bis an die Schwelle einer experimentellen Erforschung der Mechanik des Gehens führten.
Endgültig überschritten wurde diese Schwelle dann im neunzehnten Jahrhundert. In Frankreich rückte die Physiologie zu einer Art Modewissenschaft auf und die Bewegung von Mensch und Tier zu einem ihrer Lieblingsthemen. Selbst Honoré de Balzac konnte der Versuchung nicht widerstehen, im Jahre 1833 eine „Theorie des Gehens“ vorzulegen, in der er sich darüber wunderte, wie groß die Schwierigkeiten waren, die das Gehen seiner wissenschaftlichen Durchleuchtung entgegensetzt: „Ist es nicht erschreckend, so viele unlösbare Probleme in einem gewöhnlichen Akt zu finden, in einer Bewegung, die achthunderttausend Pariser jeden Tag ausführen?“