Zadie Smith: London NW : Deine Beichte ist die pure Selbstsucht, Natalie
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Kilburn also - Straßen, Geschäfte, Busfahrten, aber auch die Erinnerung an Orte oder die Sehnsucht danach, ein bestimmtes Zimmer wiederzusehen: Nichts, was sich hier im überwiegend von Migranten bewohnten Viertel abspielt, ist bloß dekorativ, alles kommt im Wesentlichen so auf uns, wie es der Perspektive der Hauptfiguren entspricht. Was Heimat mit Identität zu tun hat, loten sie hartnäckig aus, und besonders Natalie ist den Verhältnissen ihrer Kindheit mit einer Art Hassliebe verbunden.
Wankend durch Krisenzeiten
Einerseits nimmt sie ihr Studium sehr ernst, um aus all dem herauszukommen, sie ändert irgendwann sogar ihren Namen (getauft wurde sie „Keisha“), lässt die laufbahngefährdende Rebellion ihrer Busenfreundin Leah an sich vorübergehen und weiß die Möglichkeiten durchaus zu schätzen, die der gewonnene Status ihr und vor allem ihrer Familie bietet. Andererseits besitzt die farbige Aufsteigerin ein profundes Klassenbewusstsein und arbeitet zunächst in einer Organisation, die sich für soziale Belange einsetzt - und als sie später dann doch auf die andere Seite wechselt, nicht zuletzt, um die Ihren zu unterstützen, sieht sie mit Leid und Bedauern, dass eine Kollegin sich für Benachteiligte einsetzen und trotzdem glänzend verdienen kann.
All das gerät kurz ins Wanken, schließlich spielt der Roman in wesentlichen Teilen zwischen der Lehman-Pleite von 2008 und dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Frühling 2010, und die latente Unsicherheit Natalies findet ihr Ventil nicht zuletzt in bohrenden Fragen an Francesco, der auf undurchsichtige Weise im Bankensektor arbeitet.
Liegt das Schicksal in unserer Hand?
So liest sich der Teil des Buches, der Natalies Werdegang gewidmet ist, mit seinen 185 kurzen, klar strukturierten Kapiteln wie eine nachträgliche Rekapitulation der Erfolgsanwältin darüber, warum ihr Leben nun in Scherben liegt - wie es kam, dass sie sich selbst immer weiter abhandenkam, dass sie auf dubiose Sex-Anzeigen antwortete und nun ihrem Mann, der aus allen Wolken fällt, einen langen Brief schreibt. Allerdings weigert sich Francesco, den zu lesen. „Beichten ist Eigennutz“, sagt er, wenige Stunden bevor er der nichtsahnenden Leah das Geheimnis seiner vermeintlichen glücklichen Ehe verrät. Und ihn die raffinierte Autorin damit post festum als Zyniker entlarvt. Denn wie es um Natalie und Francesco wirklich steht, kommt erst einige hundert Seiten nach der Karnevalsszene zur Sprache.
Die Frage aber, ob richtig ist, was man da Tag für Tag, Jahr für Jahr tut, prägt das Leben der Hauptfiguren in unterschiedlicher Weise. Und damit natürlich auch die Frage, was an unserem Leben Schicksal ist und was wir selbst herbeigeführt haben. Nathalies Antwort darauf ist eindeutig: Ihr selbst gehe es gut, sagt sie, weil sie „härter gearbeitet“ habe, weil sie „klüger“ sei, weil sie gewusst habe, dass sie „nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln“ wollte. Und wer dabei auf der Strecke bleibt, habe sich das in gewisser Weise selbst zuzuschreiben.
Ereignisse negieren Möglichkeiten
Der ebenfalls farbige Junkie Nathan schiebt dagegen alles auf eine Gesellschaft, die ihn schon früh ausgegrenzt hat, und auf seinen Körper, der den Anforderungen des Profifußballs nicht gewachsen war. Felix schließlich berauscht sich am Gedanken, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können, und wird - eine der vielen bitteren Pointen des Romans - auf der Straße erstochen, weil er sein Gespür für Gefahren verloren hat.