Jonathan Franzens neuer Roman : Das Internet ist die DDR von heute
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Wikileaks mit moralischen Kategorien
Unschuldig ist niemand in „Unschuld“, dabei trifft die von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld besorgte deutsche Übersetzung den amerikanischen Titel eigentlich nicht. Denn „Purity“, wie der Roman im Original heißt, bedeutet Reinheit. Und von Reinheit, ob hygienischer oder moralischer, ist in dem Roman viel die Rede. Die junge Heldin heißt sogar Purity, die sich gleichwohl für diesen Namen schämt und von allen nur Pip genannt wird. Durch ihr Studium hoch verschuldet, lebt sie in einem besetzten Haus in Oakland. Unglücklich verliebt, dazu unzufrieden mit ihrem Job als Telefonverkäuferin, hat sie nur noch ein Ziel: Sie will ihren Vater finden, der jetzt wenigstens ihre Studienschulden übernehmen soll, nachdem er sich nie um sie gekümmert hat. Da ihre Mutter Anabel jegliche Auskunft über ihn verweigert, kommt es ihr gerade recht, durch Zufall ein Praktikum beim begehrten „Sunlight Project“ ergattert zu haben. Für die prominente Enthüllungsplattform, die unter der Maxime „Sonnenlicht desinfiziert am besten“ korrupte Regierungen ebenso an den öffentlichen Pranger stellt wie sexistisch entgleiste Männer, begeistert sie sich zwar eigentlich nicht. Aber da die Organisation über Spionagesoftware verfügt, die noch die kleinste Maus in der kalifornischen Bay Area orten kann, erhofft sie sich, das Geheimnis um ihren Vater zu lüften.
Dafür muss Pip allerdings nach Südamerika, denn seit der charismatische Sunlight-Gründer Andreas Wolf in fast allen Staaten per Haftbefehl gesucht wird, hat er sich in den Urwald Boliviens zurückgezogen. In Interviews prahlt er gern damit, dass er nicht wie Wikileaks alle Informationen ungefiltert ins Netz stelle, sondern moralischen Kategorien folge. Anders als sein Rivale Assange sei er also immer noch sauber. „Reinheit“ ist sein Markenzeichen. Was es Pip nicht einfacher macht, sich für sein Projekt zu begeistern. Denn auf Reinheit, genauer: auf Reinlichkeit, reagiert sie empfindlich. Ihre Mutter hat einen notorischen Sauberkeitsfimmel. „Geruch ist Fluch“, pflegt diese zu sagen, und dass sie ihre Geruchsumgebung kontrolliert, ist nur einer ihrer vielen Ticks. Doch auch in der Dschungeloase kommt Pip mit ihrer Vater-Recherche anscheinend nicht weiter, und auch mit den jungen Männern dort, die in fensterlosen Räumen Programme entwickeln, und den jungen Frauen, die in aufgemöbelten Scheunen „Community-Building“ betreiben, wird sie nicht warm. Zu spitz ist ihr Mundwerk, und mit ihrer Ansicht, dass „Phrasen wie die Welt verbessern inzwischen doch von der Erdoberfläche wegironisiert“ worden seien, steht sie allein da.
Ein wahlverwandtschaftliches Spiegelkabinett
Ausgerechnet Andreas Wolf, der in der Welt Ansehen genießt wie sonst nur Aung San Suu Kyi oder Bruce Springsteen, gefällt Pips Sarkasmus, wenn sie die Nase über Kool-Aid rümpft und über die olfaktorische Offenbarung der Geruchslandschaft Boliviens schwadroniert. Prompt beendet er die Affäre mit der Schauspielerin, die in einem Film, der gerade über ihn gedreht wird, seine Mutter spielt – eine der typischen Franzen-Volten, in denen er seine Motive immer weiterdreht.