Raymond Carver: „Beginners“ : Sein Lektor machte ihn zum Markenartikel
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Minimalist von Weltruhm: Raymond Carver (1938 bis 1988) Bild: Bob Adelman/Corbis
Wie es der Originalversion von Raymond Carvers Kultbuch „Beginners“ ohne Gordon Lishs Eingriffe in den Text ergangen wäre, war bislang reine Spekulation: Jetzt liegen beide Versionen vor - ein Vergleich.
Der amerikanische Erzähler Raymond Carver genoss seinen Ruhm sieben Jahre lang. Ausgelöst wurde die Begeisterung 1981 durch den Storyband „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“. Carver avancierte zur Kultfigur eines neuen lakonischen Stils, er war der Porträtist des armen weißen Amerika, dessen Helden sprachlos gegen Scheidungen, Suff, Verzweiflung und unbezahlte Rechnungen ankämpfen. Es war die Welt, der Carver selbst entstammte und der er nur durch Schreiben entfliehen konnte. 1988 starb der Autor, fünfzigjährig, an Krebs.
Zehn Jahre später machte der Journalist D.T. Max im „New York Times Magazine“ öffentlich, wie weit die Beteiligung des Lektors Gordon Lish an dem Band „Wovon wir reden...“ tatsächlich ging. Seitdem ist der Fall einer höchst komplexen Autorschaft zum Gegenstand von philologischen Untersuchungen geworden. Lish behauptete zu Recht, er habe am Erfolg des Buchs entscheidenden Anteil gehabt. Wie es dem Original ohne seine Bearbeitung auf dem Markt ergangen wäre, darüber lässt sich nur spekulieren.
Der Autor ließ ihn gewähren
Jetzt ist in literarisch sehr versierter Übersetzung der Band „Beginners“ erschienen, der die siebzehn Erzählungen aus „Wovon wir reden...“ erstmals vollständig in Carvers ursprünglicher Version präsentiert. Die lektorierte Fassung von 1981 wird deshalb aber nicht zurückgezogen. Vielmehr existieren die beiden Bücher nebeneinander, und auch die kanonische Klassikerreihe der Library of America (2009) bringt beide Fassungen. Ein singulärer Fall und eine blühende Spielwiese nicht nur für Literaturseminare, sondern für alle, die sich für den Schreibprozess interessieren. Welchen Anteil also hat Lish an der unverwechselbaren Stimme eines bedeutenden Erzählers? Und was haben wir vom Original-Carver ohne Lish-Bearbeitung zu halten? Um es sofort zu sagen, es geht nicht um Kinkerlitzchen, sondern um zwei grundverschiedene Bücher.
Die frühe Version ist gut doppelt so lang wie die veröffentlichte Lektoratsfassung. Bei manchen Geschichten strich Lish vierzig Prozent, in zwei Fällen sogar fast vier Fünftel des Originals. Er änderte den Plot, vereinfachte das Vokabular, verknappte die Dialoge, eliminierte Reflexionen, Abschweifungen und Binnengeschichten; drei Viertel aller Stories erhielten unter seinen Händen einen neuen Schluss. Seine Homogenisierungsarbeit ist ein Meisterwerk. Lish wollte auch nicht, dass in den Stories zu viel geweint wird, gebetet schon gar nicht, obwohl manche von Carvers Figuren das nun einmal tun: sie weinen und beten. Weg damit! In der Erzählung „Wo stecken sie alle?“ reflektiert der Ich-Erzähler über eine Stelle bei Italo Svevo. Der Lektor warf sie hinaus. Der Arbeiterschriftsteller Carver sollte keine literarische Bildung demonstrieren. Gordon Lish, soviel ist klar, verstand sich als Toningenieur und Produzent des Carver-Sounds.
Durfte er das tun? Selbstverständlich. Der Autor ließ ihn ja gewähren, ob aus Trägheit, Harmoniebedürfnis oder Vertrauen, ist unerheblich. Der Schriftsteller und sein Lektor, sie brauchten einander, und mehr als zehn Jahre hindurch war ihre Arbeitsbeziehung erfolgreich. „Du, mein Freund, bist für mich der ideale Leser“, schrieb Carver an Lish im September 1977, „Du warst es immer und wirst es immer sein.“ Da lag die Erzählsammlung „Will You Please Be Quiet, Please?“, mit der Carvers steile Karriere begonnen hatte, ein Jahr zurück, und natürlich wusste der Autor genau, was er sagte. Schon der Buchtitel war eine geniale Erfindung seines Lektors. Fast alle coolen, manchmal schrägen und sonderbar leuchtenden Titelzeilen sind das Werk von Gordon Lish.