F.A.Z.-Romane der Woche : Wie sich das Leben der anderen anhört
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Bild: Berlin University Press
Husch Josten erzählt von Werten, in die man dringend investieren sollte, Cécile Wajsbrot beschreibt die Einsamkeit im Schatten ihres alzheimerkranken Vaters: Dies und mehr in den F.A.Z.-Romanen der Woche.
Husch Josten erzählt von Werten, in die man dringend investieren sollte, Cécile Wajsbrot beschreibt die Einsamkeit im Schatten ihres alzheimerkranken Vaters: Dies und mehr in den F.A.Z.-Romanen der Woche.
Im Englischen spricht man gern von „closure“, wenn es darum geht, mit etwas abzuschließen, eine Antwort auf zentrale Fragen zu finden. Closure bezeichnet das befreiende Gefühl, mit einem inneren Dilemma seinen Frieden zu machen, es loszulassen.
Von diesem schwer in Worte zu fassenden Bedürfnis nach Erkenntnis handelt einer der ungewöhnlichsten Romane dieses Frühjahrs: „Das Glück von Frau Pfeiffer“ von Husch Josten. Zwar lebt die Autorin in Köln, wo sie auch 1969 geboren wurde, doch strahlt ihr Buch eine angenehm unaufdringliche Weltläufigkeit aus. Deutsch an diesem Roman ist, abgesehen von seiner Sprache, höchstens die tiefe Ernsthaftigkeit, mit der er sein existentielles Thema auslotet. Das verleiht der Lektüre bei aller Eleganz und Leichtigkeit eine verführerische Dringlichkeit.
Wie schon in ihrem Debüt „In Sachen Joseph“ (2010) hat Husch Josten sich eine komplexe Sinnsucherin zur Heldin erkoren. Lee Carvin, Tochter aus ihr unangenehm wohlhabendem Hause, ist vor allem insofern privilegiert, als sie auf ihren kleinen Job bei einer Zeitung nicht angewiesen ist und daher ihrer Neigung, über die großen und kleinen Dramen des Lebens nachzudenken, ausführlich nachgehen kann. Seit einiger Zeit verfolgt die Eigenbrötlerin ein spezielles Projekt: Sie verbringt viele Stunden in Tom’s Deli, einem Café im schönen Londoner Stadtteil Notting Hill, und hört den Umsitzenden beim Telefonieren zu. Was ihr zufliegt, schreibt Lee auf. Der vage Plan ist, „das Babel an Themen und Stimmen, Gesprächsfetzen und Notationen - gleichsam alles -, zu einem einzigen, gewaltigen, irrwitzigen Straßengespräch zusammenzufügen“. Es ist der instinktive Drang nach einer Art moralischer Zeugenschaft, der sie antreibt, keine aufdringliche Neugier. Lee befremden die vielen dahingesagten Mitteilungen, die ihrer Überzeugung nach eigentlich wichtig wären, aus denen etwas erwachsen müsste - und die stattdessen achtlos im riesigen Gully der alltäglichen Banalität verschwinden.
Ein notorischer Drang zur Infragestellung ihres Lebensstils
Lee belauscht vieles, was sie diffus beschäftigt - und einmal auch etwas, das ihr nicht nur wichtig, sondern wesentlich erscheint. Eine ältere Frau erzählt einer Freundin am Telefon, sie habe endgültig genug von der alten Dame, für die sie seit fast sechzig Jahren arbeite, und wolle diese nun sich selbst überlassen: „Ich habe auch noch den Rest von meinem Leben, und sie wird mit ihren hundert Jahren schon irgendwie zurechtkommen.“
Alarmiert beschließt Lee, die alte Frau zu suchen - und spannt dazu auch gleich ihren besten Freund ein, der gerade wieder einmal bei ihr aufgetaucht ist. Bruno, ein Künstler, gehört zu denen, die sich im Leben nehmen, was sie brauchen - die Gesellschaft anderer gehört in seinem Fall nicht oft dazu. Bindungen einzugehen, Verantwortung zu übernehmen liegt ihm fern: „Seit Lee ihn kannte, hatte Bruno sich beharrlich geweigert, sich irgendwo zu Hause zu fühlen oder eine Kontur anzunehmen.“ Ihm selbst erscheint seine Teilnahmslosigkeit als Absicherung. Gerade erst hat er seinen Geliebten abrupt verlassen - als er hörte, dass dessen Ehefrau wegen ihrer Affäre einen Selbstmordversuch unternommen hat. Seitdem ist sein Handy abgestellt. Bruno redet nicht darüber, nicht einmal mit Lee, seiner engsten, ja einzigen Vertrauten. Die hätte ihrerseits durchaus anderes zu tun, als irgendwo in London eine völlig unbekannte Frau aufzuspüren, die entweder, die Aussprache war undeutlich, Fizer oder Faisser oder Fifer oder Pfeiffer heißen könnte: Lee hat sich nämlich von ihrem Mann Herold getrennt, einem dieser absurd gut verdienenden Banker, der sich angesichts des notorischen Drangs seiner Frau zur Infragestellung ihres Lebensstils zunehmend selbst fragwürdig vorkam. Doch da Lee stets lieber über andere als über sich oder ihre eigene Ehe nachdenkt, stürzt sie sich auf die Rettung der mysteriösen Frau Pfeiffer.
Lee und Bruno finden die vermeintlich ohne Beistand Dahinsiechende schneller als gedacht. Zu ihrer Überraschung stellt sich heraus, dass sie im Haus der alten Dame bereits erwartet werden: Die Haushälterin Emma hatte das Telefonat lediglich fingiert, um Lee anzulocken. Denn Frau Aurora Pfeiffer, neunundneunzig Jahre alt, seit sechsundzwanzig Jahren Witwe und ausgestattet mit einem Herzen, das definitiv bald zu schlagen aufhören wird, hat im Diesseits noch ein Anliegen. Und bei dessen Erfüllung sollen Lee und Bruno ihr helfen.
Die Tugenden der Heldin sind die ihrer Autorin
Aber das Erstaunliche an diesem in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Roman ist nicht die Handlung, es sind die Figuren. Denn sie alle - Lee, Bruno und Frau Pfeiffer, aber auch Herold und Miles Costello, der Inhaber von Tom’s Deli - sind auf der Suche nach closure, wenn auch unbewusst. Ohne aufdringlich zu psychologisieren, schildert Husch Josten, wie sich die Charaktere ganz allmählich von ihrer bisherigen Idee von sich selbst lösen, in der sie wie in Zwangsjacken steckten, und sich dem eigentlichen Leben zuwenden. Der Roman liest sich als subtile Widerlegung von Brunos bei Albert Camus ausgeborgter Maxime: „Um glücklich zu sein, darf man sich nicht zu sehr mit den Mitmenschen beschäftigen.“ Frau Pfeiffer indes beschäftigt sich nicht nur intensiv mit ihnen, sie mischt sich auch auf so selbstherrliche wie unvorhersehbare Weise ein in die Leben von Lee und Bruno.
Husch Josten formuliert klar, mit Temperament und warmer Intelligenz. Denn die Tugenden ihrer Heldin sind letztlich auch die dieser Autorin: Die wache Aufmerksamkeit für jene komplexen, spannenden Zusammenhänge zwischen Menschen, Ereignissen und Entwicklungen, die dem oberflächlichen Zeitgenossen entgehen. So unaufdringlich wie ihr kosmopolitischer Horizont sind auch die literarischen Beschäftigungen Husch Jostens in den Roman eingeflossen: sei es, dass Lee die Ehegeschichten von „Mr. und Mrs. Derdon“ der unerbittlich hellseherischen Irin Maeve Brennan liest oder dass Frau Pfeiffer sich kopfschüttelnd an eine ihrer verrückten Freundinnen erinnert, die leidenschaftlich in Hitler verliebt war - hier ist offenbar die Rede von Unity, eine der legendären Mitford-Schwestern. Und Herold, so heißt es, habe sich früher in Anwesenheit des charismatischen Bruno gefühlt „wie Hans Hansen im Angesicht von Tonio Kröger“. Dass Lee Frau Pfeiffer einmal als „die moderne Variante von Antigone“ bezeichnet, ist praktisch das einzige intellektuelle namedropping.
Vom Appell, wesentlich zu werden
Der Roman spielt im Sommer 2008, und die Finanzkrise ist allgegenwärtig - vor allem für Herold, der erst seinen Job verliert und dann noch als Aktionär seines bisherigen Arbeitgebers sein Vermögen. Wehmütig denkt er an Lee, der innere Beteiligung schon immer wichtiger war als jegliche Firmenanteile, weil sie es falsch fand, „so viel Zeit damit zu vergeuden, Geld für das eine oder das andere - das eigentliche Leben - anzusammeln“, anstatt die eigene Substanz einzubringen.
“Die alte Frau hat etwas mit ihr angerichtet, von dem Lee nicht gewusst hatte, dass es überhaupt anzurichten war“, heißt es gen Ende. Gemeint ist der Appell, wesentlich zu werden. Was so einfach klingt, ist schwierig umzusetzen - auch erzählerisch. Weil es hier glaubwürdig gelingt, ist „Das Glück von Frau Pfeiffer“ auch eines des Lesers.
FELICITAS VON LOVENBERG