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Wie Algorithmen herrschen : Willkommen in der Numerokratie

  • -Aktualisiert am

Tausende Empfehlungen im Internet: Aber schmeckt das Eis überhaupt? Bild: dpa

Alles nur eine Frage der Rankings, Scores und Sternchen: Der Soziologe Steffen Mau zeigt, wie wir uns algorithmisch erzeugten Hierarchien unterwerfen. Führt da kein Weg mehr raus?

          4 Min.

          Die Sonne scheint. Sie wollen ein Eis essen. Ein Stand ist in Sicht, aber Sie hören zufällig, das beste Eis gebe es da oder dort, eine ziemliche Strecke entfernt. Sie kennen den Informanten nicht und kaufen sich das Eis um die Ecke. Schmeckt. Wie wäre es aber, wenn Sie erfahren, dass in einem Ranking, an dem Tausende teilgenommen haben, genau jenes entlegene Café auf dem ersten Platz gelandet ist? Vielleicht trauen Sie der Expertise einer anonymen Masse nicht und sparen sich den Weg. Aber würden Sie nicht die Mühe auf sich nehmen, wenn es gute Freunde wären, deren Bewertungen das Ranking bestätigen?

          Nun, die sind gerade nicht in der Nähe, aber eine Smartphone-App teilt Ihnen mit, dass die große Mehrheit einer Online-Community, der Sie angehören, jenes Eiscafé bevorzugt und darüber hinaus auch ein bestimmtes Café in ihrer Heimatstadt schätzt, das auch Sie lieben. Warum sollten Sie Ihr Eis in einem schlecht gerankten Laden um die Ecke kaufen, in das niemand gehen würde, der solche Cafés mag, die Sie auch mögen?

          Was sagt es über die Qualität des Eises aus?

          Ihr Smartphone hat Ihnen das auf der Umgebungskarte ohnehin auf einen Blick angezeigt: fünf goldene Sterne dort, wo es das beste Eis für Sie gibt. Sie gehen hin, essen ein sehr gutes Eis, fühlen sich wohl unter Leuten, die so sind wie Sie, und bezahlen mit einer App, die Sie zugleich um eine Bewertung bittet. Sie geben fünf Sternchen, und für eine bestimmte Gemeinschaft wird es bald gar kein anderes Eiscafé mehr geben als dieses – denn die anderen werden von der Karten-App auch gar nicht mehr angezeigt. Wer anderen Communitys angehört und andere Apps nutzt, kauft woanders sein bestes Eis.

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          Über die Qualität des Eises, vom Anteil der Sahne bis zur Güte der Früchte, ist damit also gar nichts gesagt; ohnehin sollen Geschmäcker ja verschieden sein. Das Ranking bildet allein Quantitäten ab. Das „beste Eis“ meint nicht das Eis, das Ihnen am besten schmeckt, sondern ein Produkt, das oft gekauft und wieder gekauft wird, das häufig und gut gerated wird. In die Bewertung geht auch ein, wie lange man auf den Service wartet, Interieur, Flirtfaktor, Sauberkeit und so weiter. Der Eismann kennt die Kriterien und optimiert sein Angebot entsprechend. Was wirklich gut an dem Eis ist, geht beinahe unter in dieser „Herausbildung einer metrischen Wertigkeitsordnung“, die den sozialen „Kurswert“ eines Eiscafés erstellt.

          Parameter in numerischer Form sind bevorzugt

          Von den „daten- und indikatorenbasierten“ Verfahren der Rangbildung für alles und jeden handelt das vor kurzem erschienene Buch des Berliner Soziologen Steffen Mau über „Das metrische Wir“ (Suhrkamp Verlag). Seine These ist, dass unsere Gesellschaft einer neuen Form der „sozialen Rangbildung“ unterworfen wird, die allein auf einer „Hierarchisierung und Klassifikation“ quantifizierender Daten aufbaut. Von Pierre Bourdieus gesellschaftlicher Urteilskraft, in der wir unseren Status nicht nur dem in Geld messbaren Vermögen zu verdanken haben, sondern auch der kulturell erworbenen Handhabung „feiner Unterschiede“, unterscheidet sich die soziometrische Distinktion durch die Erzeugung von Ungleichheiten, die auf quantifizierenden, scheinbar objektiven Messungen, Vergleichen und Auswertungen beruhen.

          Der Wert wird einem Eis genauso wie einem Forscher aufgrund von Daten (Drittmittelquote, Zitationsimpact) zugewiesen, die den Vergleich und damit die Hierarchisierung ermöglichen: Ob ein Wissenschaftler besser ist als ein anderer, weil mehr Texte in Peer-Review-Journalen erscheinen oder weil seine Projekte häufiger und mit größeren Summen von der DFG gefördert werden, sei dahingestellt. Aber es ist eben viel schwieriger, wissenschaftliche Qualität an wissenschaftlichen Ansprüchen zu messen, als Zitationen oder Fördermittel zu zählen. Dafür gibt es sogar Computerprogramme. Daher werden bei der Ermittlung der Rangpositionen solche „Parameter bevorzugt, die sich in numerischer Form ausdrücken lassen“.

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