Carlos Ruiz Zafóns neuer Roman : Mir ist so literarisch wohl als wie neunhundert Seiten
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Der Bestsellerautor Carlos Ruiz Zafón wurde nur 55 Jahre alt. Bild: dpa
Schauerliteratur im Taschenformat: Carlos Ruiz Zafón schließt den Erfolgszyklus „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ mit dem vierten Roman ab. Dabei lässt er zum Finale fast alle Figuren nochmal antreten.
Es überrascht kaum: „Das Labyrinth der Lichter“ schaffte es aus dem Stand auf Platz zwei der Bestsellerlisten. Weniger war von der Verkaufsmaschine Carlos Ruiz Zafón nicht zu erwarten, schon gar nicht beim vierten und letzten Roman des Zyklus „Der Friedhof der vergessenen Bücher“: Mit „Der Schatten des Windes“ hatte er nicht nur die Reihe eröffnet, sondern auch einen gigantischen Erfolg hingelegt. 2003 las ganz Deutschland Ruiz Zafón, von der Supermarktkasse bis ins Außenministerium, und träumte sich in ein sepiafarbenes Barcelona voller Bücherregale. Seitdem sind nicht nur zwei weitere Bände der Reihe auf Deutsch erschienen, sondern auch mehrere Schauerromane aus Ruiz Zafóns Frühwerk; an Entzugserscheinungen haben seine Leser nicht gelitten. Aber vielen geht es vermutlich wie Ruiz Zafóns skurriler Figur Fermín mit Süßigkeiten: Je mehr er sich in den Mund stopft, desto größer wird die Lust.
Nun also der letzte Band zur Welt der Sempere, einer Buchhändlerfamilie im Barcelona der fünfziger und sechziger Jahre, der Franco-Zeit, die von Diktatur und Nachwirkungen des Bürgerkriegs geprägt ist. Nachdem der dritte Roman gewisse Ermüdungserscheinungen gezeigt hatte, packt Ruiz Zafón den Stier bei den Hörnern: Er wechselt in die Intrigen von Politik und Geheimdiensten, die bisher das Leben der braven Helden als finstere außenstehende Mächte bestimmt haben. Um das überzeugend tun zu können, schafft er sich eine düstere Heldin, die zugleich die Herkulesaufgabe schultert, die Stadt zu verkörpern. Mit den Worten eines Statisten: „Weil Sie ein Wesen aus Licht und Schatten sind, wie diese Stadt.“
Schauerromantische Großstadtbilder
Alicia Gris leistet – nomen est omen – in urbanen Dämmerzonen Geheimdienst- und Polizeiarbeit der schmutzigen Sorte. Sie leidet an einer Hüftverletzung, die von der Bombardierung Barcelonas durch die italienische Luftwaffe 1938 herrührt, und ernährt sich von Weißwein und Schmerzmitteln. Ihrer Intelligenz tut das keinen Abbruch: „Ihr Geist funktioniert anders als der der anderen. Wo alle eine verschlossene Tür sehen, sieht sie einen Schlüssel. Wo die anderen die Fährte verlieren, findet sie die Spur. Das ist eine Gabe, um es mal so zu sagen. Und das Beste ist, dass keiner sie kommen sieht.“ Schön ist die junge Frau sowieso, im Femme-fatale-Genre; Ruiz Zafón versucht, seinem Krönungsschmöker dadurch Würze zu geben, und das gelingt streckenweise auch.
Aber von Beginn an: Im Winter 1959 wird Alicia von ihrem so raffinierten wie grausamen Mentor Leandro Montalvo – ein Geheimdienstoberer, der in einem Luxushotel residiert – auf einen Fall angesetzt. Es ist ihr letzter, so das Versprechen, aber dafür ein besonders heikler. Francos Nationaler Bildungsminister Mauricio Valls ist kurz nach dem achtzehnten Geburtstag der Tochter Mercedes aus seinem Madrilener Anwesen verschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Zusammen mit Vargas – einem gut erhaltenen, aber ansonsten nicht gerade exemplarischen Polizisten – macht Alicia sich auf die Suche. Im Arbeitszimmer des Ministers findet sie „Ariadna und der Scharlachprinz“, das Manuskript eines Kindermärchens von Víctor Mataix, das sie nach Barcelona führt. Dort sammeln die zwei Ermittler Informationen und haben die Ehre, durch Rovira, einen tollpatschigen Kollegen, beschattet zu werden.
Die katalanische Metropole ist in mehrerer Hinsicht Alicias natürliche Bestimmung: Sie ist ihre Heimatstadt, und dort hat ihre Arbeit für Leandro begonnen, der weiterhin mehr als eine Karte im Ärmel verbirgt – vor allem aber kann Ruiz Zafón Alicia hier mit der Familie Sempere zusammenführen. Ästhetisch gesehen ist Alicias Funktion klar: Die „wandelnde Zeitbombe“ komplettiert das Sempere- und das Barcelona-Tableau insgesamt um seine abgründige Seite. Die braucht es auch, um zum Abschluss richtig aufräumen zu können, so, wie das eben nur ein stinkwütender Racheengel tun kann, mit rauchendem Kehrbesen und ohne Rücksicht auf Verluste.
Darauf jedoch muss der Leser lange warten; über weite Strecken sieht er nicht, wie der Hase läuft. Der Roman mutiert früh vom Krimi zum Thriller, die Ermittler geraten selbst ins Visier. Alicia und Vargas vollbringen dabei den Drahtseilakt, für die Autoritäten zu schnüffeln und gleichzeitig gegen sie zu sein; bei einem Krimi in Franco-Spanien geht das wohl kaum anders, wenn man das Publikum nicht strapazieren will, es ist aber nicht immer glaubwürdig. Ansonsten häuft Ruiz Zafón Indizien, ohne die Fäden zu verknüpfen – bis er sich nach knapp vierhundert Seiten dazu entschließt, mit einem Schlag alles auszupacken. Er lässt seine Helden die Kartons eines Anwalts finden, der dankenswerterweise alles aufgezeichnet hatte. Für einen Autor von Krimis und Schauerromanen, in denen es auf fein dosierte Spannung ankommt, ist das ein erstaunlich plumpes Verfahren.