Biographie : Das nackte Leben
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Neue Biographie von Lothar Fischer Bild: Verlag
Sie war die schamloseste Frau der Weimarer Republik - als solche jedenfalls die berühmteste: die Nackttänzerin Anita Berber. In Amerika und in Deutschland erscheinen zwei neue Biographien mit der Lebensgeschichte dieser Frau, die ihrer Zeit so weit voraus war.
Es gibt langweiligere Polizeiakten: „Im Metropol-Varieté tritt eine Tänzerin Anita Berber auf, die eigentlich in allen ihren Tänzen sich in schamlosester Weise fast nackt produziert“, empört sich ein Bürger in einem Schreiben an das Berliner Polizeipräsidium im Jahr 1926. „Sie ist fast nackt und vollführt durch Reiben und Streichen an ihren nackten Brustwarzen sinnlich aufreizende Posen. Die Tänzerin gefährdet unzweifelhaft ganz erheblich die Sittlichkeit und verletzt das Schamgefühl in unerhörter Weise“.
Umgehend schickt das Präsidium einen Beamten ins Metropol, der Beschwerde nachzugehen, einigermaßen erschüttert kehrt dieser zurück: Nicht genug damit, daß sich beim Tanz die Brüste der Berber bewegten und durch Vibrieren des Körpers in dauernder Bewegung gehalten würden, auch seien ihre Schamteile deutlich sichtbar gewesen, und der Schluß der Darbietung, bei der die Tänzerin mit weit gespreizten Beinen und angezogenen Knien auf der Bühne gelegen habe, sei „geeignet, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gröblich zu verletzen“. Gegen den Besitzer des Nachtklubs wird ein Strafverfahren eingeleitet; als die Tänzerin bei der nächsten Kontrolle wenige Tage später ihrem Publikum sittsam mit Fransenbehang um die Hüfte gegenübertritt, wird es wieder eingestellt.
Berlin hatte seine Hohepriesterin gefunden
Sie war die schamloseste Frau der Weimarer Republik - als solche jedenfalls die berühmteste: die Nackttänzerin Anita Berber, 1899 in Leipzig geboren, Mutter Diseuse, Vater erster Geiger beim Gewandhausorchester; mit fünfzehn siedelt sie, ein dünner Backfisch, mit Mutter und Großmutter nach Berlin um, nimmt Ballettunterricht, wächst zu einer Schönheit heran, feines, ausdrucksstarkes Gesicht, langgliedriger, knabenhaft schlanker Körper. Ein Foto aus dem Jahr 1918 zeigt sie mit Hut und selbstbewußt spitzbübischem Lächeln um die Mundwinkel. Berlin ist damals die drittgrößte Metropole der Welt, vor ihr nur London und New York; 3,8 Millionen Menschen leben hier, ein Drittel von ihnen jünger als zwanzig Jahre. Eine aufgeregte Zeit. Der Erste Weltkrieg ist eben vorüber, die Pickelhauben sind Vergangenheit, zügellose Vergnügungssucht macht sich breit. Das Geld verfällt schnell und mit ihm die Sittsamkeit. Was zählt in diesen wenigen Jahren zwischen den Kriegen, die in Berlin vielleicht noch ein wenig greller, verzweifelter aufloderten als anderswo, ist nur das Heute, nur das eigene Wohlergehen. Und in der jungen, zügellosen Anita Berber hatte die Stadt ihre Hohepriesterin gefunden.
Jetzt erscheinen in Amerika und in Deutschland zwei neue Berber-Biographien. Und neben einigem bislang unveröffentlichtem Bildmaterial gibt es darin noch einmal die Lebensgeschichte dieser Frau zu lesen, die ihrer Zeit so weit voraus war, daß selbst unsere Zeit noch Schwierigkeiten hätte, mit ihr Schritt zu halten. Es war ein kurzes und es war ein schnelles Leben. Anita Berber wurde nur 28 Jahre alt, und die „galoppierende Lungenschwindsucht“, die Ärzte wenige Monate vor ihrem Tod konstatierten, mag eine Folge von zuviel Cognac oder Kokain gewesen sein, es war wohl von vielen Sachen ein wenig zuviel. Sie hatte drei Ehemänner und ungezählte Liebschaften, Männer, Frauen, alles, was es eben gibt. Wer ihren Namen noch nie gehört hat, kennt sie wahrscheinlich trotzdem: Otto Dix malte sie 1925 in einem obszön enganliegenden, hochgeschlossenen roten Kleid und mit roten Haaren. Verlebt sieht sie auf seinem Porträt aus, hart - mit kalkweiß gepudertem Gesicht, einem grellrot aufgemalten Mündchen, weit aufgerissenen und dunkel umtuschten Augen. Das Zerrbild einer Frau, Sinnbild einer Epoche der Verkommenheit, es gehört zu den berühmtesten Werken des Malers.