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Zum Tod von Peter Härtling : Der Dirigent des Wort-Orchesters

Peter Härtling (13. November 1933 bis 10. Juli 2017) im Herbst 2013 in seinem Haus in Walldorf Bild: dpa

Er hatte Augen für den Schrecken und das Glück, völlig unbesorgt darum, ob nicht sein Ruf als seriöser Autor für ein erwachsenes Publikum durch das Schreiben für Kinder leiden könnte. Ein Nachruf.

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          Den Zettel auf dem Küchentisch fanden die Kinder erst spät. „Sollte etwas mit mir passiert sein, holt Tante Käthe“, hatte die fünfunddreißigjährige Erika Härtling geschrieben, bevor sie sich mit 28 Tabletten vergiftete. Zurück blieben der zwölfjährige Sohn Peter und seine jüngere Schwester Lore. Sie hatten bereits den Krieg erlebt, den Umzug aus Chemnitz ins mährische Olmütz, die Flucht nach Österreich, den Einzug der Roten Armee. Der Vater geriet in russische Kriegsgefangenschaft, die Mutter wurde vergewaltigt. Schließlich, als nach der Übersiedlung ins schwäbische Nürtingen 1946 die Nachricht vom Tod ihres Mannes kam, hatte Erika Härtling keine Kraft mehr.

          Tilman Spreckelsen
          Redakteur im Feuilleton.

          Was das für ihre Angehörigen bedeutete, kann man sich kaum ausmalen. Die Kindheit des bei Kriegsende gerade einmal elfjährigen Peter Härtling war jedenfalls von größter Unruhe gezeichnet, von persönlichen Katastrophen, eingebettet in die Katastrophe Europas, und noch längst nicht zur Ruhe gekommen, als dann endlich die Waffen schwiegen. Für die verwaisten Flüchtlingskinder war es so fast unmöglich, nach derartigem Leid im vom Krieg so viel weniger betroffenen Nürtingen Wurzeln zu schlagen, was ja schon der Mutter nicht gelungen war: „Sie glühte in ihrer Verachtung für diese Gegend, die ,ganz‘ geblieben war“, schreibt Peter Härtling im Rückblick.

          Der Weg zurück ins literarische Gedächtnis

          Dass jemand in auswegloser Situation durch die Literatur gerettet worden sei, klingt mittlerweile wie eine Floskel, aber das ganze Leben Peter Härtlings verbürgt diese Formel, wenigstens insoweit, als Literatur demjenigen aus existentieller Not helfen kann, der die Anlage dafür mitbringt. Der sich lesend den Blick weiten lässt und mit ihm das Bewusstsein. Und der auf diesem Weg ein Gespür dafür entwickelt, welche Rolle wiederum die Kunst in einem Leben einnehmen kann, das unter problematischen Vorzeichen begonnen worden ist.

          Es ist kein Zufall, dass Peter Härtlings Weg vom Journalisten zum Schriftsteller auch durch die Beschäftigung mit Künstlerbiographien bestimmt worden ist. In einer Artikelserie, aus der später ein häufig aufgelegtes Buch wurde, stellte Härtling „Vergessene Autoren“ vor, Frucht seiner Leseleidenschaft und oft genug tatsächlich Entdeckungen, denen er so den Weg zurück ins literarische Gedächtnis bahnte. Seine großen, von Experimentierlust gezeichneten Bücher über Autoren und Musiker zumeist des neunzehnten Jahrhunderts widmeten sich dann Hölderlin, Waiblinger oder Lenau, Fanny Mendelssohn, Schubert oder zuletzt Verdi, Künstlern also, deren Leben er mit genauem Blick für die Irritationen durch die jeweilige Umwelt betrachtete. Er zeigte sich form- und traditionsbewusst, wenn es um Lyrik ging, und näherte sich seinen Figuren mit kristallinen Sätzen an – dies umso mehr, je ungeheuerlicher das Beben war, das er registrierte.

          Eine erste Überwältigung durch Lektüre

          Auch als Cheflektor bei S. Fischer, der dort unter anderem Arno Schmidts schwer zugängliches, aber teures Buch „Zettel’s Traum“ auf den Weg brachte und dies wegen des Risikos mit schlaflosen Nächten bezahlte, warb Härtling für die Literatur, die er verbreitet wissen wollte, bevor er sich 1973 als freier Schriftsteller selbständig machte. Er moderierte jahrzehntelang ein Literaturquiz im Hessischen Rundfunk und besprach in der „Frankfurter Anthologie“ dieser Zeitung mit großem Enthusiasmus am liebsten halb oder fast ganz vergessene Autoren wie Max Herrmann-Neiße, Richard Beer-Hofmann, Theodor Kramer, Ferdinand Hardekopf, Christian Daniel Schubart und Justinus Kerner, aber auch Goethe, Hölderlin, Heine und Fontane. „Seit ich dieses Gedicht kenne, hastet es durch mein Gedächtnis, höre ich seinen heftigen, am Ende seufzenden Atem“, heißt es da über ein Gedicht der frühverstorbenen Hertha Kräftner, und in diesen Worten ist eben auch die Erkenntnis enthalten, dass man sich nicht von der Literatur retten lassen und anschließend die Kunst Kunst sein lassen kann.

          Das ist auch denjenigen seiner Bücher eingeschrieben, die seinen Ruf bis heute am meisten geprägt haben, den Werken für junge Leser. Als sich in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren in der deutschsprachigen Kinderliteratur eine Wende hin zu einem bis dahin für unzumutbar gehaltenen Realismus anbahnte, maßgeblich befördert durch den Verlagsleiter Hans-Joachim Gelberg, wurde Härtling mit Büchern wie „Das war der Hirbel“, „Oma“ oder „Ben liebt Anna“ bald zum wichtigsten Vertreter dieser Richtung. Zahllose Kinder der Bundesrepublik und später auch des wiedervereinigten Deutschlands verdanken Härtling ihre erste Überwältigung durch Lektüre, auch in den Lesungen, die Härtling unermüdlich durchführte, völlig unbesorgt darum, ob nicht sein Ruf als seriöser Autor für ein erwachsenes Publikum durch das Schreiben für Kinder leiden könnte.

          Er wusste, wovon er schrieb

          Natürlich schreibe man nicht schlichter, wenn die avisierten Leser jünger seien, sagte Härtling dann, man schreibe auch nicht über andere, gar weniger relevante Themen. Als Dirigent der Worte habe man als Kinderbuchautor statt des großen Orchesters ein Kammerensemble zur Verfügung. Das mache die Sache allerdings nicht leichter: Denn während in der Philharmonie der Erwachsenenliteratur manches untergehe, höre man im Kammerorchester jeden falschen Ton.

          Damit hat Härtling die deutsche Kinderliteratur in einem Ausmaß geprägt, dessen Langzeitwirkung wohl noch gar nicht abzusehen ist. Immer wieder konnte man beobachten, mit welcher Ehrfurcht ihm junge Autoren begegneten, auch wenn sie vollkommen anders schrieben als er, und deren Werke er wiederum mit der größten Neugier und dem größten Interesse zur Kenntnis nahm. Er war freundlich und zugewandt bis hin zur Güte, er vertrat seine Ansichten entschieden und war zugleich immer bereit, über die gegenteiligen mit großer Offenheit zu diskutieren. Fantasy-Literatur etwa war ihm zuwider, und wenn man ihm gegenüber dennoch auf die Qualitäten bestimmter Bücher dieser Richtung beharrte, war man schon mittendrin in einem intensiven, respektvollen Austausch, der durchaus länger anhalten konnte.

          Und so weit Härtling die Augen öffnete für die Welt und ihren Schrecken, für gefährdete und beschädigte Kindheiten, so weit offen standen sie eben auch für das Glück, das sie bereithält. In seinem letzten Roman, dessen Erscheinen er noch erlebte, in „Djadi, Flüchtlingsjunge“, schildert er die Schwierigkeiten eines unbegleiteten Flüchtlings, aber auch die Mühen und Erfolge seiner Integration durch einen Freundeskreis bejahrter Deutscher – er wusste, wovon er schrieb.

          Peter Härtling, der für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, ist in der Nacht zum Montag gestorben. Friedlich, wie es aus dem Kreis der Familie heißt.

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