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Tom Nairn gestorben : Er machte seine Geschichte aus freien Textstücken

Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin von Schottland, nannte Tom Nairn in ihrem Nachruf „einen der größten Denker, politischen Theoretiker und Intellektuellen, die Schottland je hervorgebracht hat“. Bild: Stewart Attwood

Analytiker der englischen Monarchie, Programmatiker des schottischen Nationalismus: Tom Nairn ist im Alter von neunzig Jahren gestorben.

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          Die Idee eines rheinischen Kapitalismus ist geläufig. Gerne wird sie verwendet, um zu erklären, dass dem halbierten, von der Zentralmacht Europas zum Außenposten der westlichen Welt geschrumpften deutschen Nationalstaat nach 1949 ein verblüffend schneller wirtschaftlicher Wiederaufstieg gelang. Geographische Verhältnisse und religionshistorische Verhaltensdispositionen wirkten demnach zusammen, um eine durch Routinen der Kooperation zeitgemäß abgemilderte Variante der individualistischen Erwerbsgesinnung zu befördern. Die komplementäre Idee, dass der Marxismus ein rheinischer Sozialismus sei, setzte der schottische Publizist Tom Nairn in die Welt. Besser sagt man, um seinen Publikationsstil von der Manifestation als der Äußerungsform des konventionellen Marxismus abzusetzen: Er ließ diese Idee fallen, warf sie seinen Lesern hin, bei Gelegenheit, und hätte es vielleicht auch ohne Gelegenheit getan, wie einen Witz, den man irgendwann loswerden muss.

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

          2006 rezensierte Nairn in der „London Review of Books“ die Marx-Biographie des französischen Intellektuellen und Spitzenbeamten Jacques Attali mit dem typisch französischen, so hoch und weit wie möglich ausgreifenden Titel „Karl Marx ou l’esprit du monde“. Mit der Liebe zum polemischen Kontrast schilderte der Rezensent den Ortsgeist der kleinen rheinländischen Welt, in die Marx und Engels hineinwuchsen, als Mischung dynamischer Einflüsse. „Nach der Französischen Revolution stellte dieses Grenzland die Bedingungen für eine verblüffende Emanzipation bereit: eine Entladung demokratischer Energien und visionärer Kapazitäten, der eine gleichzeitige Explosion der angewandten Wissenschaft entsprach.“ Nairn erwähnte die journalistische Tätigkeit von Marx und Mainz als Wiege des Buchdrucks, mit einem Verweis auf Benedict Andersons These von der Bedeutung der Druckerpresse für die „Erfindung“ der Nation.

          Dialektische Quittung für Marx und Engels

          Als teilnehmende Beobachter profitierten Marx und Engels von dieser Nähe zum sozialen Wandel, sie ließen sich gleichsam von der Eisenbahn forttragen. Obwohl Preußen sich das Rheinland 1815 angeeignet hatte, behielt die bürgerliche Gesellschaft in den vormals französischen Gebieten laut Nairn einen binationalen Charakter. Die wissenschaftlichen Propheten aus Wuppertal und Trier waren ihrer Zeit in gewissem Sinne zu weit voraus, und Nairn präsentierte ihnen im universalhistorischen Rückblick die dialektische Quittung: „Der Marxismus war ein im Rheinland entspringender Umweg der Weltgeschichte, der während einer langgezogenen Epoche von Krieg, Völkermord und demokratischen Niederlagen mit dem Hauptstrom verwechselt wurde.“

          Gemeinsam mit Perry Anderson, dem Bruder von Benedict Anderson, gehörte Nairn zu den prägenden Autoren der 1960 gegründeten „New Left Review“. Der Hauptwiderspruch, den Nairn gegen die Begründer des Marxismus einlegte, betraf den Nationalismus, den Marx und Engels, möglicherweise zu sehr beeindruckt von der Wiederaufnahme des Kölner Dombaus, nur als bürgerliches Durchgangsstadium auf der Reise in den Sozialismus gelten lassen wollten. Im Kommunistischen Manifest schrieben sie: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ Mit Blick auf seine schottische Heimat und die übrigen unter der britischen Krone vereinigten Länder der Britischen Inseln kehrte Nairn diese Analyse um: Das Klassenbewusstsein der Arbeiter bleibt unterentwickelt, solange ihnen ihr Vaterland vorenthalten wird.

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