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Kenzaburo Oe gestorben : Zwei Winde, die sich in den Bäumen treffen

Kenzaburo Oe (1935 bis 2023) Bild: Jeremie Souteyrat/Laif

Ein Leben mit der Last der Schuld an einer Tat, die nie begangen wurde: Zum Tod des japanischen Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe.

          3 Min.

          Der Tod, den er seinem eigenen Kind zugedacht hatte, als es 1963 mit einer Schädelanomalie geboren wurde, ist nie wieder von Kenzaburō Ōes Seite gewichen. Sechzig Jahre lang war ein Tod, der nicht eingetreten ist, sein ständiger Begleiter. Hikari wäre gestorben, hätte sein Vater die für das Überleben des Säuglings notwendige Operation untersagt. Ōe, der damals 28 Jahre alt war, hatte bereits den angesehenen Akutagawa-Preis erhalten, er engagierte sich, wurde wahrgenommen, bezog Stellung zu heiklen politischen Fragen wie dem Verhältnis Japans zu den Vereinigten Staaten und dem aufkeimenden Nationalismus im Land. Er hatte Angst, die Mühsal, die das Leben mit einem behinderten Kind bedeutete, würde seine Karriere als Schriftstellers gefährden.

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

          Nach tagelangem Ringen mit sich selbst entschied sich Ōe für ein Leben mit Hikari. Dass er sich damit auch für ein Leben im Zeichen der Schuld entschied, dürfte er kaum geahnt haben. Es ist die nicht zu tilgende Schuld angesichts einer Tat, die nie begangen wurde – es sei denn in Gedanken. Dem Entsetzen, das die Anomalie des Säuglings auslöste, folgte das noch größere Entsetzen des Vaters über sich selbst.

          Alles wird zum Material

          Bereits ein Jahr später erschienen zwei Texte, in denen Ōe die tiefe Krise behandelte, in die ihn Hikaris Geburt gestürzt hatte. Der Roman „Eine persönliche Erfahrung“ beschreibt den Schock des jungen Vaters, seine Gewissensqualen, als er das geistig behinderte Kind mithilfe eines Arztes töten will, schließlich die Kehrtwende. Die Erzählung „Agui, das Himmelsungeheuer“ entwickelt das umgekehrte Szenario. Hier hat sich der junge Vater, ein Komponist, gegen den Neugeboren entschieden, gleitet allmählich in den Wahnsinn ab und setzt seinem Leben schließlich ein Ende.

          Ōe, der französische Literatur studiert hatte und stark von westlichen Autoren wie Sartre und Faulkner beeinflusst war, wurde ein Schriftsteller, der das zutiefst Persönliche mit dem allgemein Menschlichen verband, ein Moralist und Bescheidenheitsfanatiker, der Selbstbefragung und Selbstentblößung mit eiserner Konsequenz betrieb. Ironie war ihm lange Zeit fremd, sein Stil erscheint deutschen Lesern oft als schlicht, dabei eher zur Umständlichkeit als zu Eleganz neigend. Auf seine Weise nahm er vorweg, was heute in Europa als Autofiktion ungeheuer erfolgreich ist. In der Tradition des japanischen Ich-Romans, des Shishōsetsu, schrieb Ōe Bücher, in denen die um Realitätstreue bemühte Darstellung von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen als Grundlage für ein fiktionales Geschehen diente. Auf diese Weise wurde ihm alles zum Material: eigene Lektüreeindrücke, Begegnungen auf Lesereisen, Telefongespräche, die mitunter langatmig in indirekter Rede wiedergegeben werden, Episoden und Partikel des Familienalltags.

          Selbstporträt als Deprikloß

          In „Der stumme Schrei“, in Deutschland auch als „Die Brüder Nekodoro“ erschienen (1967), dient ein Bauernaufstand im Jahr 1860 als historischer Hintergrund für eine Dorfrevolte gegen einen Supermarktbesitzer. „Der nasse Tod“ (2018) rekonstruiert die mysteriösen Umstände, unter denen Ōes nationalistischer Vater 1945 ums Leben kam, und erzählt zugleich von den Turbulenzen, die sich Kogito Choko einhandelt, als er sich mit einer feministischen Theatergruppe einlässt, die seine Werke für die Bühne adaptieren will. In diesem Alterswerk beschreibt Ōe sein Alter ego Kogito als „armseligen Alten“ und als „Deprikloß“, ebenso schonungslos, wie er sich in „Stille Tage“ (1994) als unbeholfenen, sich seinen Schreib- und Lebenskrisen hemmungslos hingebenden Schriftsteller dargestellt hatte.

          In seiner Heimat war Ōe eine moralische Instanz, vergleichbar mit Heinrich Böll und Günter Grass, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Als die deutsche Linke sich Anfang der achtziger Jahre gegen die Nachrüstungsbeschlüsse der Nato stemmte, engagierte er sich in der japanischen Friedensbewegung. Als deutsche Schriftsteller sich für Dissidenten in Osteuropa einsetzten, unterstützte er koreanische Oppositionelle, und als in Deutschland die Kritik an der Wegwerfgesellschaft wuchs, gehörte er zu den Vorkämpfern des Umweltschutzes. Nach der Katastrophe von Fukushima forderte Ōe, der die Japaner immer wieder mit dem Trauma der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki konfrontiert hat, vergeblich den Ausstieg Japans aus der Kernenergie.

          Vor der Banalität des Lebens hatte Ōe, der 1935 auf der Insel Shikoku geboren wurde, ebenso wenig Angst wie vor seinen Abgründen. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der er über Schicksalsschläge, Seelenqualen oder sexuelle Exzesse schrieb, hat er in „Licht scheint auf mein Dach“ (2014) sein eigenes Ende imaginiert: als „eine Szenerie in nicht allzu ferner Zukunft, wenn ich sterben und mich von Hikari verabschieden werde“. Zwei Zeilen eines eigenen Gedichts führten ihm den Tod und das Fortleben seiner körperlosen Seele unmittelbar vor Augen: „Egal, ob mein Leben schön war oder nicht, werde ich an seinem Ende nicht unbedingt ängstlich oder traurig sein, sondern ich werde es eher seltsam finden. Wenn ich das sage, wird Hikari wahrscheinlich wie immer ganz ruhig sagen: Ja, seltsam“. Und dann stellt Ōe sich vor, wie er und Hikari sich als körperlose Seelen irgendwann wiederbegegnen werden: wie zwei Winde, die sich in den Bäumen treffen.

          Hikari, der erst im Alter von fünf Jahren zu sprechen begonnen hat, ist heute ein bekannter Komponist. Sein Vater, der Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe, der ein Geschöpf seines Sohnes war, ist am 3. März in Tokio gestorben. Er wurde 88 Jahre alt.

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