Zum Tod Albert O. Hirschmans : Skepsis und Interesse
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Albert O. Hirschman (1915 - 2012), hier auf einer Aufnahme, die im Jahr 2000 in Berlin entstand. Bild: Frank Röth
Ein skeptischer Moralist mit Sinn für Listen der Vernunft: Zum Tod des deutsch-amerikanischen Ökonomen und Soziologen Albert O. Hirschman.
Als Albert O. Hirschman 1988 an der Freien Universität eines seiner zahlreichen Ehrendoktorate in Empfang nahm, erzählte er von einer Szene in seiner Berliner Jugend. Damals, Ende der zwanziger Jahre, habe er sich nach einem Gespräch mit dem Vater, einem Chirurgen an der Charité, bei seiner Schwester mit dem Ausruf eingestellt: „Weißt du was? Vati hat keine Weltanschauung!“ Er müsse sich da wohl vorgestellt haben, dass ihm ein solcher Mangel später nicht unterlaufen würde.
Tatsächlich kam es dann ganz anders, zu einer kompletten Garnitur entschiedener Ansichten wollte es der politische Ökonom und Sozialwissenschafter Hirschmannie bringen. Geriet er doch in Gefahr, zum Urheber einer ökonomischen Großtheorie zu avancieren, war er rechtzeitig mit Einwänden gegen sich selbst zur Stelle. Auf seine „Propensity to Self-Subversion“ – auf deutsch wurde daraus der eher feierliche Titel „Selbstbefragung und Erkenntnis“ – war Verlass.
Arbeit mit Varian Fry
Berlin verließ der protestantisch getaufte Sohn eines jüdischen Vaters kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und nur wenige Monate nach seinem Abitur am Französischen Gymnasium. Sein Studium der Wirtschaftswissenschaften begann er in Parisan der Ecole des Hautes Etudes Commerciale. Zwei Jahre später ging er an die London School of Economics, dann zu einem Einsatz an der Seite der Sozialisten im spanischen Bürgerkrieg, bevor er 1936 nach Triest weiterzog, dort promovierte und einer antifaschistischen Aktionsgruppe beitrat.
Den Krieg machte er zuerst als französischer Soldat mit, half nach der Niederlage Varian Fry in Marseille bei dessen Rettungsarbeit politischer Flüchtlinge vor dem Zugriff der Nationalsozialisten, flüchtete dann selbst über Spanien und Portugal in die Vereinigten Staaten und kehrte von dort als amerikanischer Soldat zu Einsätzen in Italien und Nordafrika zurück.
Ohne Masterpläne
Die Entscheidung für die Vereinigten Staaten und ein „n“ weniger in seinem Nachnamen war da gefallen; es folgten sechs Jahre am Federal Reserve Board in Washington. Doch seine Untersuchungen faschistischer Wirtschaftspolitik in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre – sein 1945 erschienenes erstes Buch, „National Power and the Structure of Foreign Trade“, untersucht die Ausweitung des Einflussbereichs des nationalsozialistischen Deutschland in Ost- und Südosteuropa –hatten den jungen Ökonomen früh vorsichtig gemacht gegenüber einem ökonomischen Masterplan, der wirtschaftlich schwächeren Staaten oktroyiert wird; und sei es auch, wie beim Marshall-Plan für das Nachkriegseuropa, mit besten Absichten.
Zum produktiven Durchbruch kam diese Skepsis dann in den Jahren als Wirtschafts- und Finanzberater, den die Weltbank der kolumbianischen Regierung empfohlen hatte. Die entwicklungsökonomische Orthodoxie verlangte nach Generalplänen für den Anschub von nationalen Volkswirtschaften: Um Märkte und Produktion nicht aus dem Gleichgewicht geraten zu lassen, sollten die Entwicklungsschritte global ansetzen. Mehr als die grundlegenden volkswirtschaftlichen Kennzahlen sollten für die richtige Initialisierung gar nicht erforderlich sein.
Versteckte Nützlichkeiten
Was Hirschman dieser Position entgegensetzte, beschrieb er später als ersten Schritt seiner Suche nach „geheimen Rationalitäten“, nach nützlichen oder nutzbar zu machenden Effekten, die in üblichen ökonomischen Modellierungen unter den Tisch fielen. „The Strategy of Economic Development“ formulierte dagegen die Theorie eines ungleichgewichtigen, von Knappheiten, Engpässen und anderen Sequenzen profitierenden Wachstums. Seine in Kolumbien, später auch in anderen Entwicklungsländern gesammelten Erfahrungen brachten noch manche unabdingbar wirkende Prinzipien der Entwicklungsplanung ins Trudeln.
Eine Gegentheorie im technischen Sinn war damit nicht anvisiert. Es ging darum, die Reichweite der vermeintlichen Prinzipien durch Hinweis auf versteckte nützliche Effekte einzugrenzen – wofür freilich gute Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten notwendig waren. Das meinte vorerst noch die ökonomischen Verhältnisse im engeren Sinn, aber dann zunehmend auch soziale und politische Gesellschaftsprofile, die sich in einer Ökonomie, die immer mehr auf Validierungen in mathematisierter Form setzte, nicht unterbringen ließen.
Demokratische Gesellschaft und Markt
Hirschmann zog sich denn auch von diesem Terrain zurück und entwickelte eigene Varianten, ökonomische, soziologische und moralische Facetten bei seinen Fragestellungen im Blick zu behalten. In „Exit, Voice and Loyalty“ untersuchte er das Spektrum von Reaktionen auf wirtschaftliche und politische Missstände, „Leidenschaften und Interesse“ führte vor Augen, was die frühen Theoretiker des Kapitalismus dem freien Markt jenseits ökonomischer Effizienz an Tugendeffekten zutrauten, in „Engagement und Enttäuschung“ führte er die These aus, dass die Gewöhnung an einmal erreichte Komfortbefriedigungen in modernen Massendemokratien zum Verebben jenes Willens zur Veränderung führe, der aus ärmlichen und krisenhaften Verhältnissen überhaupt erst hinausgeführt hatte, und in „Rhetorik der Reaktion“ gab er unter dem Eindruck des Erfolgs der amerikanischen Neokonservativen einen bündigen Abriss der Grundfiguren politischer Reformkritik von rechts.
Akademisch führte in sein Weg dabei von Yale über Columbia und Harvard an das Institute for Advanced Study in Princeton, wo er bis zu seine Emeritierung 1985 Professor of Social Science war. In den neunziger Jahren war er als Fellow des Wissenschaftskollegs wieder einige Zeit in Berlin. Wer ihn damals hörte, der konnte sich noch einmal davon überzeugen, wie anregend bei ihm die Skepsis gegenüber allzu festgefügten Ansichten verknüpft war mit dem „Laborieren“ an der grundlegenden Frage, was eigentlich den Zusammenhalt einer Gesellschaft in demokratischen Marktgesellschaften ausmacht. Anfang dieser Woche ist Albert O. Hirschmann im Alter von siebenundneunzig Jahren gestorben.