Peter Handke wird achtzig : Neue Fenster, bitte!
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Er ist aber viel mehr, nämlich „das Augenmaß“. Dieses Wort findet sich auf der Einbandseite des Notizhefts, dessen Einträge das nun publizierte Buch versammelt („Die Zeit und die Räume“, Suhrkamp Verlag, 311 S., Abb., geb., 34,– €). „Er nimmt Augenmaß“, ist darin auch zu lesen, als Handke im August 1978 jene privatmystische Reise durch Kärnten, Slowenien und Italien unternimmt, die einen Umbruch markierte: biographisch, weil er nach sieben Jahren Frankreich wieder verließ (erst 1990 sollte er, dann endgültig, zurückkehren), werkimmanent, weil nun das epische Schreiben, der Bezug auf klassische Formen, die in Handkes Begeisterung für und Übersetzung von griechisch-antiker Literatur Ausdruck findet, einsetzte. „Langsame Heimkehr“ war deshalb auch ein programmatischer Romantitel; fortan proklamierte Handke für sich eine aus den Ursprungsquellen der Literatur stammende Legitimation.
Ihren prägnantesten Ausdruck fand das angesichts der politisch motivierten Kritik an der Zuerkennung des Nobelpreises in seinem Anspruch, „von Homer, von Cervantes, von Tolstoi“ her zu kommen. An ihnen maß er sich und will er gemessen werden. Interessant daran ist weniger das Maßlose des Anspruchs als der epische Charakter des Schreibens der drei Genannten. Und die Tatsache, dass es sich bei ihnen um große Leidende der Literaturgeschichte handelt, deren Werke aber über Zeit und Raum triumphiert haben.
Ein Eisberg an Notizheften
Das pünktlich zum heutigen achtzigsten Geburtstag von Handke herausgebrachte Notizen-Buch heißt ja auch „Die Zeit und die Räume“ – ebenso wie „Das Augenmaß“ eine frühere Titelidee für „Langsame Heimkehr“, jenes Scharnierbuch der Handke’schen Karriere. Die Räume – das ist Handkes Obsession („Die Herrlichkeit der Räume“, bricht es einmal im Notizheft in Erinnerung an Montmartre aus ihm heraus), und darin liegt wohl auch der Grund seines Verständnisses für den serbischen Territorialterrorismus. Herrlichkeit braucht Herrschaft, und Handke übt sie als phänomenologischer Wanderer aus, ein Zug, der sich in seinen ersten französischen Jahren herausbildete, die eben just bis 1978 gingen.
Deshalb ist die erstmalige Veröffentlichung eines (und dann auch noch diesen) vollständigen Notizhefts von Handke ein Ereignis. Zwar hat er selbst mehrere Auswahlbände aus seinen seit 1975 bis heute geführten Notizbüchern zusammengestellt, aber seine Denk- und vor allem Sehbewegung wird doch erst nachvollziehbar in der Schreibbewegung. Das konnte man schon 2015 erkennen, als ein zusammenhängender Auszug aus jenem Notizbuch erschien, das auf das nunmehr edierte folgte.
Seit 2021 wird von der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach an einer Digitaledition von Handkes Notizheften gearbeitet, deren Gesamtumfang mehr als 35.000 Seiten betragen soll – mehr als alle publizierten Bücher zusammen. Sein Geburtstagsgeschenk zum heutigen Achtzigsten: Klassiker zu Lebzeiten. Und damit überzeitliche Wahrnehmung, was ihm gefallen wird. Denn so spottet der Wanderer Handke in „Die Zeit und die Räume“ über die Zeit: „die anmutigen Frauen von gestern watscheln heute schon schwerfällig über den Platz.“ Neue Fenster, bitte.