Sie hätte die Großmutter von Holden Caulfield sein können, dem Helden von J.D. Salingers 1951 erschienenem epochalen Roman „Der Fänger im Roggen“. Aber das hätte ihr nicht gereicht. Sie hätte die Geliebte von Holden Caulfield sein können, um gemeinsam mit ihm der Welt zu erklären, was es bedeutet, jung zu sein, und warum nicht die Jugend das Problem ist, sondern das Leben als Erwachsener. Das wäre schon besser gewesen, aber es hätte ihr nicht gereicht. Sie wurde 1902 im Alter von zwanzig Jahren schlagartig berühmt, verkaufte in nur vier Wochen hunderttausend Exemplare ihres ersten Buches, flirtete mit dem Teufel, liebte Frauen und Männer, führte ein Leben jenseits aller Konventionen und drehte einen Film darüber. Aber das hat ihr nicht gereicht. Es war Mary MacLane nicht gegeben, mit irgendetwas zufrieden sein.
Das war ihr durchaus bewusst: „In manchen Augenblicken fühle ich eine tödliche Gewissheit, dass es auf der ganzen weiten Welt keinen Moment Ruhe für mich gibt, dass es niemals Ruhe geben wird, dass meine Frauenseele immer weiter fragen wird, noch Jahrhunderte, nachdem mein Frauenkörper ins Grab gelegt wurde.“ Was für eine Frau spricht hier? Jeanne d’Arc in der Nacht, bevor sie zum Scheiterhaufen geführt wird? Mary MacLane war, als sie dies schrieb, neunzehn Jahre alt, lebte in der amerikanischen Provinz und verbrachte ihre Zeit mit einsamen Spaziergängen und ein wenig Hausarbeit. Da war allerdings noch etwas, eine gigantische, kaum zu bewältigende Aufgabe, die sie völlig mit Beschlag belegte und der, wie sie sicher wusste, kein anderes Wesen auf dieser Welt gewachsen war: Sie musste sich selbst erfinden.
Einsamkeit, Verzweiflung, Ruhmsucht
Darin hatte sie bemerkenswertes Talent. Außerdem war sie fleißig. Sie hatte überhaupt viele gute Eigenschaften: Sie war egoistisch, arrogant, verlogen, selbstgefällig und eitel. Sie war der Ansicht, dass dies alles keine schlechten Eigenschaften sein konnten, denn es waren ja ihre Eigenschaften. Und sie war Mary MacLane, ein Genie, wie die Welt noch keines gesehen hatte. Alles an ihr war bewunderungswürdig, von ihrem brillanten Geist bis zu ihrer vorzüglichen Leber, der sie eine längere Passage ihres Buches widmete. Immer wieder lobt sie ihren „ausgezeichneten, starken jungen Frauenkörper“. Unzufrieden war sie nur mit dem Rest der Welt. Und mit ihrer einsamen, „erbärmlich ausgehungerten Seele“.
Sie hatte viele Gründe, ein Buch zu schreiben. Die wichtigsten lauten Einsamkeit, Verzweiflung, Übermut, Ehrgeiz, Glücksverlangen und Ruhmsucht. Ihre Aufzeichnungen beginnen am 13. Januar 1901 und enden nach exakt drei Monaten am 13. April desselben Jahres. Das Buch wird ein Bestseller, seine Autorin eine Berühmtheit. Der Form nach handelt es sich um ein Tagebuch, ein Stück Memoirenliteratur; sie selbst bevorzugt eine andere Bezeichnung: „Da haben Sie nun meine Darstellung“, heißt es im Geleitwort, das sie selbst verfasst: „Es ist das Dokument von drei Monaten Nichts.“ Weil nichts geschieht in ihrer kleinen Provinzmädchenwelt, ist sie sich selbst das einzige, das größte Ereignis. Und indem sie dieses Ereignis so beschreibt, wie sie es beschreibt, katapultiert sie sich aus ihrer kleinen Welt hinaus. Augustinus und Rousseau hätten sich nicht träumen lassen, dass Mary MacLane und wenig später Gertrude Stein den berühmten Bekenntnissen ihrer Vorgänger Bücher hinterherschicken würden, die dem Genre des Selbstberichts fulminante weibliche Varianten hinzugefügt haben.