Susan Sontag und Thomas Mann : Vielleicht war da auch gar kein Hund
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Der Text beginnt als Campus-Geschichte. Die Erzählerin, die an einer Stelle als „Miss Sontag“ angesprochen wird, studiert am renommierten College der University of Chicago. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Kinderfreund und heutigen Kommilitonen Harry besucht sie einen fünfwöchigen Literaturkurs über den „Zauberberg“ - ein Buch, das die beiden im Vorfeld geradezu verschlungen haben: „Wir haben auf dem Zauberberg tatsächlich gelebt.“ Am Ende des Seminars, das sie mit offensiv-skeptischer Zurückhaltung aus der letzten Reihe verfolgen, stellen sie ihrem Dozenten ihre eigene, als ebenso brisant wie neuartig erachtete Romaninterpretation vor. Auf dessen unerwartet verhaltene Antwort reagieren die beiden Studenten zunächst ihrerseits mit Zweifel („vielleicht waren wir zu dumm“) und stellen sich daraufhin die naheliegende Frage: „Warum nicht Thomas Mann selbst fragen?“ Die Adresse ist schnell herausgefunden, der Kontakt überraschend einfach hergestellt.
Von der wortreich angekündigten Interpretation des „Zauberberg“ erfährt der Leser bis zum Ende allerdings nichts. Nach der recht verkrampften Unterhaltung mit dem Schriftsteller stellt die Erzählerin sogar fest: „Ich erinnere mich nicht an meine großartige Neuinterpretation des ,Zauberberg‘. Ich erinnere mich, dass Thomas Mann sie sehr still zur Kenntnis genommen hat.“ Stattdessen kommt nun ein ganz anderer Aspekt ins Spiel, nämlich die Frage nach der angemessenen Rekapitulation des literarischen meet and greet. Wie lässt sich davon berichten - vom Zusammensein mit einer Person, deren Gestalt einem bislang nur durch Bilder in Büchern und Zeitungen bekannt gewesen ist?
Nur„drei Chicagoer Studenten“
„Thomas Mann saß auf dem Rand des Sofas, sehr aufrecht, Fersen zusammen und Knie auseinander, das rechte Bein etwas nach vorn. Es war die weithin bekannte Pose, die genaue Entsprechung seines Fotos auf den Schutzumschlägen all seiner Bücher. Er trug einen grauen Gabardine-Anzug, glaube ich, und weiße Schuhe. Sicher bin ich mir bei den weißen Schuhen, weil er die auf den Fotos auch trägt. Eine Hand ruhte zwanglos auf seinem rechten Knie, und neben ihm hockte ein großer Hund, ebenfalls wie auf den Bildern. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir die Sache mit dem Hund so unglaublich passend, vielleicht war da auch gar kein Hund. Doch, ich bin mir sicher, da war einer. Das war die erste wirklich eindrucksvolle Sache. Thomas Mann sah genauso aus wie auf den Bildern.“
Also, wie war das noch mal - weiße Schuhe, ein Hund? Sontags Ausführungen sind insofern bemerkenswert, als sie die Überblendung der Medienfigur und des realen Menschen als Erinnerungskonflikt inszenieren. Dies hat Auswirkungen auf die Form des Essays. So weist der Text zum einen zahlreiche erzählerische Elemente auf: von der gezielten Verwendung bestimmter Leitmotive über eine perspektivisch geschickte Dialogführung und eine plastisch-ironische Figurenzeichnung bis zu dem schönen, aber klischeehaften Schlusssatz: „Wir gingen die Ausfahrt hinab, stiegen ins Auto und fuhren in die dunkle, grüne kalifornische Nacht.“