Alfred Andersch : War der berühmteste Deserteur der Wehrmacht keiner?
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Alfred und Gisela Andersch Bild: © Annette Korolnik-Andersch, Carona
Im Juni 1944 setzt sich Alfred Andersch von seiner Einheit ab und gerät in Kriegsgefangenschaft. Aber stimmt die Geschichte, die der Schriftsteller in seinem Roman „Die Kirschen der Freiheit“ erzählt hat, überhaupt? Eine Recherche.
Unter den etwa 300.000 Wehrmachtsdeserteuren des Zweiten Weltkriegs ist Alfred Andersch zweifellos der prominenteste. Anders als viele seiner Kameraden bekannte er sich früh und öffentlich zur Fahnenflucht. In der westdeutschen Nachkriegszeit war das ein mutiger Schritt. Sein autobiographischer Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ (1952), dessen Fluchtpunkt die Entfernung von der Truppe im Juni 1944 an der italienischen Front darstellt, machte ihn schlagartig berühmt - als Deserteur wie als Autor. Andersch wird in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Bendler-Block geehrt.
Aber war Andersch überhaupt ein Deserteur? Zweifel daran kamen auf, als im Nachlass des Schriftstellers ein Text auftauchte, den Andersch 1945 im amerikanischen Kriegsgefangenenlager geschrieben hatte. „Amerikaner - Erster Eindruck“, so lautet der Titel, erzählt die Umstände der Gefangennahme prägnant anders, als dies in „Die Kirschen der Freiheit“ geschieht. Dort endete der Bericht genau in dem Moment, als aus dem versprengten Soldaten ein Deserteur wird. Andersch ist Teil einer Radfahrereinheit der Infanterie, die noch an die Front geworfen wird, als ihr nach der Befreiung Roms durch amerikanische Truppen am 4. Juni 1944 der deutsche Rückzug entgegenströmt. Sie soll durch Verzögerungsgefechte diesen Rückzug absichern.
Zweifel an Anderschs Darstellung
Kurz bevor seine Schwadron die Front erreicht, zerstört Andersch mutwillig die Reifen seines Fahrrades, lässt die anderen vorausfahren, schlägt sich allein durch die Macchia der italienischen Provinz Latium siebzig Kilometer nordwestlich von Rom - in der Hoffnung, eher die amerikanischen Linien zu erreichen, als einem deutschen Feldgendarm in die Hände zu fallen.
Nach einer Nacht und einem Tag ist es schließlich so weit: „Hinter den Bäumen am Talrand konnte ich Häuser sehen, und ich vernahm das Geräusch rollender Panzer, ein helleres, gleichmäßiges Geräusch, als ich es von den deutschen Panzern kannte. Darauf tat ich etwas kolossal Pathetisches - aber ich tat’s -, indem ich meinen Karabiner nahm und unter die hohe Flut des Getreides warf.“ Entwaffnet und in Erwartung seiner baldigen Gefangennahme, isst er seine letzten - die titelgebenden - Kirschen in Freiheit.
Der früher geschriebene Text „Amerikaner - Erster Eindruck“ setzt genau dort ein, wo die Handlungschronologie von „Kirschen der Freiheit“ endet: mit dem Moment der Gefangennahme. Andersch erreicht das Dorf, er trifft auf feiernde italienische Zivilisten, die einen amerikanischen Soldaten umringen - doch mit einem gravierenden Unterschied: Der Ich-Erzähler hier schildert sich keineswegs als Deserteur, vielmehr als Soldaten, der mit der Waffe über der Schulter auf der Suche nach seiner Einheit den Amerikanern eher zufällig in die Hände fällt: „Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, daß San Virginio von den Amerikanern - oder waren es die Engländer? - besetzt war.
„Ich spürte den leichten Atemzug neuer Möglichkeiten“
Alles kam so überraschend für mich, daß ich einige Sekunden brauchte, bis ich mein Gewehr von der Schulter hängte, mein Koppel mit dem Bajonett und den Patronentaschen abnahm und es ihnen gab. Mir war beklommen zu Mute, aber ich spürte den ganz leichten Atemzug neuer Möglichkeiten.“
In der Tat sind dies zwei ganz verschiedene Geschichten: einmal die einer Selbstentwaffnung, um auch äußerlich erkennbar den Schritt zum Deserteur zu vollziehen. Einmal die des Versprengten, der vom Vormarsch des Kriegsgegners überrascht wird. Welche Version ist die richtige? Darf man eine solche Frage an einen literarischen Text überhaupt stellen?
In diesem Fall ist sie berechtigt, denn Andersch hat zeitlebens und mit Nachdruck auf dem autobiographischen Charakter der „Kirschen“ beharrt: „Ich ärgere mich immer, wenn selbst gestandene Germanisten das unter meine Romane zählen, es ist kein Roman, es ist ein Bericht.“ Auf das symbolische und moralische Kapital, das damit verbunden war, als Deserteur aus Hitlers Wehrmacht zu gelten, wollte der Schriftsteller Andersch keineswegs verzichten.
Desertionsgeschichte nur Widerstandslegende?
Trotz dieser auktorialen Beteuerungen hat die Andersch-Forschung nach der Veröffentlichung des nachgelassenen Berichtes „Amerikaner - Erster Eindruck“ - den Widerspruch zwischen beiden Versionen namhaft gemacht - die einen indigniert, die anderen vorwurfsvoll. Der Biograph Stephan Reinhardt hält „Amerikaner“ für „etwas genauer und vermutlich authentischer“. Eine Begründung dafür bleibt er ebenso schuldig wie der erzürnte Ed Mather, der gleich die ganze Desertionsgeschichte in den Kirschen als Widerstandslegende entzaubern will.
Welches Bild nun zeichnet sich ab, wenn man in Militärarchiven nach von Anderschs autobiographischen Berichten unabhängigen Quellen sucht? Dies ist zuvor nicht systematisch geprüft worden. Die einzigen bislang bekannten Quellen waren Anderschs Kriegsgefangenenakte und briefliche Aussagen von Anderschs Vorgesetztem, Leutnant Meske, Kompaniechef seiner Radfahrereinheit, der 3. Kompanie des 39. Luftwaffen-Jägerregiments, der in den „Kirschen“ mit Klarnamen erwähnt wird und der die Aussage zurückwies, die Andersch ihm in den Mund gelegt hat: „Für diejenigen, die vor dem Feind nicht spuren: In meiner Pistole sind sechs Schuß.“
Wenig Archivmaterial
Im Bundesarchiv Militärarchiv in Freiburg im Breisgau zeigt sich rasch als sehr gut belegt, was Andersch in den „Kirschen“ über den Vormarsch seiner Einheit berichtet. Wenige Tage nachdem sie in Italien eintrifft, soll sie bereits den Rückzug der bei Rom geschlagenen deutschen Verbände absichern, die in Mittelitalien eine neue Verteidigungslinie errichten wollen. Dabei geht es sehr chaotisch zu. Das schwere Gerät von Anderschs Einheit ist gleich in Pisa am Ausladeort verblieben. Nur mit Fahrrädern und leichten Waffen bewegt man sich in nächtlichen Eilmärschen nach vorne, weil tagsüber die amerikanischen Flugzeuge den Luftraum kontrollieren.
Und die zum überwiegenden Teil kampfunerfahrenen Radfahrer, die in Dänemark ausgebildet wurden und nun dem nicht enden wollenden Tross der eigenen geschlagenen Truppen auf dem übereilten Rückmarsch begegnen, müssen fast den Eindruck gewinnen, das letzte Himmelfahrtskommando zu sein, das noch nach vorn Richtung Feind geschickt wird.
Dass diese Umstände sich auf Disziplin und Moral der Verbände ausgewirkt haben müssen, belegt eine geheime „Verkehrsregelung“ vom 6. Juni 1944, in der das Armeeoberkommando 14 angehalten wird, gegen „Fluchtpanik ... rücksichtslos für Ordnung zu sorgen. Versprengte zu Fuß wie auf Fahrzeugen aller Truppenteile sind von den Feld.Gend.Posten zu sammeln, frontwärts zusammenzuziehen und geschlossen, ohne Rücksicht auf die Truppenzugehörigkeit der fechtenden Truppe unter Bewachung wieder zuzuführen.“
Für sehr real muss die deutsche Führung also die Gefahr gehalten haben, dass deutsche Soldaten das Chaos dieser militärischen Lage - verstopfte Straßen, überstürzter Rückzug, schnell vorrückende Feindverbände, nur noch einzelne Truppenteile, die sich auf dem Weg an die Front befinden - ausnutzen, um sich mutwillig versprengen zu lassen.
Aufzeichnung bestätigt Anderschs Darstellung
Belege dafür kann man vor allem den Verlustlisten der entsprechenden Einheiten entnehmen. Die Verlustlisten von Anderschs Regiment liegen in der Deutschen Dienststelle Berlin. Hier findet sich tatsächlich ein bislang unbekannter, namentlicher Beleg für den Obersoldaten Andersch, der ein wesentliches Detail aus den „Kirschen“ bestätigt:
„Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt“, heißt es in der am häufigsten inkriminierten Passage des Berichts, der die Desertion als Widerstandshandlung mit dem Hitler-Attentat gleichsetzt. Und das ausgerechnet am „D-Day“, jenem 6. Juni, als die amerikanischen Truppen in der Normandie landeten. Der Aktenfund in der Deutschen Dienststelle bestätigt nun genau diese Angabe: In der „Namentlichen Verlustmeldung Nr. 2“ des 39. Luftwaffen-Jägerregiments für Zeitraum 5. 6. 44-9. 7. 44“ wird Obersoldat Alfred Andersch tatsächlich am 6. Juni 1944 als „vermisst“ verbucht.
Was die Liste des Weiteren aufführt, muss jedoch den Leser der „Kirschen“ verblüffen: Nicht weniger als sechzehn weitere Soldaten aus Anderschs Einheit, der 3./Lw.Jg.Rgt. 39, werden an diesem 6. Juni ebenfalls als vermisst gemeldet. Und das, obwohl am 6. Juni noch kein Schuss fällt - erst einen Tag später beginnen Kampfhandlungen in diesem Abschnitt. Die Sollstärke der Kompanie zu diesem Zeitpunkt betrug etwa 120 Mann. Deshalb ist ein Verlust von siebzehn Mann am letzten Tag vor Erreichen der Front in puncto Moral und Kampfbereitschaft ein sicherlich signifikanter Wert.
Andersch nur einer von Vielen?
Warum sollte die Lagebeurteilung dieser Soldaten anders gewesen sein als die von Andersch? Warum soll nicht auch - wie beim Ich-Erzähler aus den „Kirschen der Freiheit“ - ihr Überlebenswille stärker gewesen sein als die Gehorsamspflicht?
Bei den meisten dieser siebzehn Vermissten der 3./Lw.Jg.Rgt. 39 vermerkt die Verlustliste unter der Rubrik „Bemerkungen“: „Beim Absetzen zurückgeblieben“. In der Deutschen Dienststelle kann man anhand der Kriegsgefangenenakten dieser am 6. Juni 1944 vermissten Soldaten deren weiteren Verbleib präzise nachvollziehen: Die meisten von ihnen werden im Laufe der nächsten Tage im Umkreis von bis zu zwanzig Kilometern zu der Stradale Nr. 2, auf der sie „beim Absetzen“ zurückblieben, einzeln oder höchstens zu zweit von der amerikanischen 5th Army gefangen genommen.
Was sagt dieser Aktenfund über die autobiographische Kontur der „Kirschen der Freiheit“? „Ich musste das Wagnis vollständig auf eigene Faust unternehmen“, schreibt Andersch 1952: „Es gab keine Möglichkeit, darüber auch nur mit einem einzigen dieser ,Kameraden‘ zu sprechen.“ Aus Sicht des prospektiven Deserteurs erscheint das rational. Sich dem Falschen anzuvertrauen hätte Anzeige und Kriegsgericht bedeuten können. Aber der Befund von siebzehn Vermissten am selben Tag lässt aufhorchen - vor allem in Bezug auf einen dritten Text, den Andersch über seine Desertion geschrieben hat: die Erzählung „Flucht in Etrurien“, die schon 1950 in dieser Zeitung als Erstveröffentlichung erschien.
Kahlschlagprosahafte Aggression
Darin finden sich viele Passagen, die später wortgleich in die „Kirschen“ eingehen. Allerdings gibt es einen zentralen Unterschied: Hier wird eine Flucht zu zweit geschildert. Das Andersch-Alter-Ego Werner Rott überredet einen Kameraden, mit ihm gemeinsam überzulaufen. Und in der Kompanie gibt es weitere Mitwisser. Regelrecht diskutiert wird darüber im Kameradenkreise, ob man „rübergehen“ solle oder pflichttreu an die Front. „Flucht in Etrurien“ ist bislang immer als fiktionale Vorstufe von „Kirschen der Freiheit“ eingeschätzt worden. Im Lichte der Verlustliste der 3./Lw.Jg.Rgt. 39 vom 6. Juni 1944 betrachtet, liest sich dieser Text nun jedoch anders.
Fest steht, dass Anderschs Aussagen über seine Einheit relativiert werden müssen. In den Kirschen beschreibt er seine Kameraden als „Herden“-Tiere, als vom Eid „Gebannte“, die „gar nicht auf den Einfall kamen, sie könnten etwas anderes tun, als beim Haufen bleiben“. Die Aversion steigert sich zu Herablassung und kahlschlagprosahafter Aggression: „Sie hingen mir meterlang zum Hals heraus, die sogenannten Kameraden. Sie kotzten mich regelrecht an ... Ich weiß nicht, ob sie in jenen Tagen noch an den Sieg glaubten. Aber sie waren jedenfalls immer noch bereit, ihn herbeizuführen. Ihretwegen etwa sollte ich nicht desertieren? Aus ,Kameradschaft‘ sollte ich beim Haufen bleiben? Es war zum Lachen.“
Aus den Akten wissen wir nun, dass nicht wenige aus Anderschs Einheit ähnlich kriegsmüde und lebensmutig waren wie er selbst. Auch ihnen gebührt mutmaßlich die „Ehre des Deserteurs“, die der Ich-Erzähler der Kirschen für sich selbst zu Recht reklamiert. Dies gilt zum Beispiel für den Gefreiten Felix L. aus Essen-Steele, im Zivilberuf Stahlkocher und 24 Jahre alt, den Gefr. Wilhelm G. aus Faulbach/Unterfr., Bauer und 31 Jahre, den Gefr. Rudolf M. aus Güstrow, Musiker und 21 Jahre, oder den Gefr. Willy T. aus Rombach im Elsass, 21 Jahre und Metzger, der am 10. Juli 1944 in Marta in Gefangenschaft gerät. Er ist der Einzige von den siebzehn aus Anderschs Einheit, der in Zivilkleidung überlief.
Warum aber hat Andersch sich in den „Kirschen“ als ,Einzeltäter‘ beschrieben? Zwei Erklärungen sind denkbar. Die eine, naheliegende: Er stilisierte sich zum heroischen Solitär, um den Nonkonformismus der Widerstandshandlung in umso hellerem Licht erstrahlen zu lassen. Eine zweite, die plausibel wird erst mit Rücksicht auf das Meinungsklima der Nachkriegszeit in Westdeutschland: Andersch bekannte sich stellvertretend für die anderen (verschwiegenen) Deserteure zu seiner Tat, um die Vorwürfe, ein ehrloses ,Kameradenschwein‘ zu sein, auf seine Person zu konzentrieren. Ein textgenetisches Indiz spricht für diese zweite Lesart.
In der Manuskriptfassung der „Kirschen der Freiheit“ findet sich auf der ersten Seite eine handgeschriebene Widmung: „Ich widme dieses Buch den Soldaten des in zwei Lager geteilten deutschen Heeres“. Gemeint wären damit auch jene Deserteure, die sich nach 1945 vorerst nicht zu ihrer Tat bekennen mochten. Man darf nicht vergessen: Der Meinungswandel, in den Deserteuren nicht länger ehrlose Verräter und Überlebensegoisten zu sehen, vollzog sich nicht vor den neunziger Jahren. Erst 1991 wurde in einem Urteil des Bundessozialgerichts den Hinterbliebenen eines von der NS-Justiz zum Tode verurteilten Deserteurs eine Opferentschädigung zugesprochen. Erst im Jahr 2002 hob dann der Deutsche Bundestag die NS-Urteile gegenüber den Deserteuren pauschal auf.
Keine namentliche Nennung in Kriegsakten
Aber war Andersch überhaupt ein Deserteur? Wie ist zu bewerten, dass er sich in dem frühesten seiner Texte zum Desertionskomplex gar nicht als Deserteur beschrieb? Wer diese Frage beantworten will, muss auch die Akten der gefangen nehmenden amerikanischen Truppen studieren, die in den U.S.-National Archives in Washington liegen. In diesem Fall war es das Combat Command A (CCA) der 1st Armored Division, das am Spätnachmittag des 7. Juni 1944 das Örtchen Montevirginio bei Oriolo Romano besetzte.
Laut Kriegsgefangenenakte wurde Andersch am 7. Juni 1944 in Oriolo gefangen genommen. Und tatsächlich verzeichnen die „After Action Reports“ dieser Einheit für den Spätnachmittag des 7. Juni in Montevirginio „3 POWs from 3./39. GAF“. POW bedeutet Prisoner of War; GAF bezeichnet die German Air Force. Ob die drei gemeinsam gefangen wurden oder einzeln, geht daraus nicht hervor. Ebenso wenig, ob sie als Deserteure eingeschätzt wurden oder nicht. Leider werden die Gefangenen auch nicht namentlich genannt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand, wenn man sich die Kriegslage dieser Stunden vergegenwärtigt.
Realistische Schilderung der Gefangennahme
Die Amerikaner nutzen das Momentum nach der Befreiung Roms, um mit großem Tempo und hohem Truppen- und Materialeinsatz nach Norden vorzustoßen. Den geschlagenen deutschen Truppen sollte der geordnete Rückzug unmöglich gemacht werden. Das Regiment, dem Andersch in die Arme lief, war Teil einer Panzerdivision, die am Vortag allein vierzig Kilometer Vormarsch hinter sich gebracht hatte, um sich den Wehrmachtsverbänden an die Fersen zu heften. („We are right at the tail of the Germans“, heißt es lapidar im Tagesbericht der CCA). Sofern sie Gefangene macht, werden diese nicht unmittelbar einem detaillierten Befragungsprozess unterworfen. Zu Obersoldat Andersch jedenfalls findet sich kein Dokument in den amerikanischen Akten, aus dem hervorgeht, ob er sich bei der Gefangennahme als Deserteur zu erkennen gab oder nicht.
Was die amerikanischen Operationsakten dieser Tage jedoch gut belegen: Gerade als mutwillig versprengter Landser tat man gut daran, nicht mehr als widerstandsbereit zu erscheinen. Der CCA jedenfalls war befohlen, alles dem schnellen Vormarsch unterzuordnen und mit vereinzeltem Widerstand kurzen Prozess zu machen („destroy light resistance“). Die in den „Kirschen“ geschilderte Version von Anderschs Gefangennahme erscheint demnach ausgesprochen situationsgerecht: Von dem Moment an, als klar war, die amerikanischen Linien tatsächlich erreicht zu haben, entledigt er sich der Waffe, um nicht noch im letzten Moment der Fahnenflucht über den Haufen geschossen zu werden.
Angst vor dem Stempel des „Kameradenverräters“
Warum aber schreibt Andersch dann in amerikanischer Kriegsgefangenschaft einen Bericht, in dem er sich gar nicht als Deserteur schildert? Das Typoskript von „Amerikaner - Erster Eindruck“ trägt den Zensurstempel des POW-Camps Fort Kearney, Rhode Island. Der Text war zur Veröffentlichung in der deutschen Kriegsgefangenenzeitschrift „Der Ruf“ bestimmt, die dort produziert wurde. Andersch war offenbar bestrebt, sich gegenüber den Mitgefangenen - den Adressaten seines Textes - nicht als Deserteur zu präsentieren.
Was den Häftlingen mitunter drohte, die sich in den Zwangsvergemeinschaftungen der POW-Camps als Deserteure zu erkennen gaben, das kann man in dem Roman „Die Geschlagenen“nachlesen, 1949 verfasst von Hans Werner Richter, dem Begründer der „Gruppe 47“. Was hier geschildert wird, hat die historiographische Forschung längst bestätigt: dass in den POW-Lagern - teils mit Billigung der Gewahrsammacht - deutsche Kriegsgefangene Lagerterror gegen deutsche Mitgefangene ausübten, welche gegen den Komment der geschlagenen Wehrmacht verstoßen hatten.
Wie seiner POW-Akte zu entnehmen ist, hat Andersch im Kriegsgefangenenlager bisweilen strategisch die Unwahrheit gesagt: Gegenüber den Vernehmungsoffizieren berief er sich auf den jüdischen Hintergrund seiner Frau, obwohl die Ehe längst nicht mehr bestand. Weltanschaulich beschrieb er sich als Sozialdemokraten, lieber nicht als KPDler. Und im Falle von „Amerikaner - Erster Eindruck“ mochte Andersch gegenüber den Mitgefangenen, solange er im Lager war, offenbar nicht als Kameradenverräter gelten, stattdessen lieber mit der Waffe in der Hand festgesetzt worden sein. Eine strategische Unwahrheit aus Überlebenswillen. Sie könnte erklären, warum Andersch diesen frühesten Text zu seinem Desertionskomplex zu Lebzeiten nie publiziert hat.
Die Autoren
Jörg Döring ist Professor für Germanistik an der Universität Siegen. Rolf Seubert lehrte dort Erziehungswissenschaft. In Kürze erscheint im Verbrecher Verlag die Monographie „Alfred Andersch desertiert. Spuren, Quellen, Dokumente“, mitverfasst von dem Londoner Historiker Felix Römer.