US-Autor William Gaddis : Nachleben eines modernen Klassikers
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Den Gehstock hatte er sich als junger Mann in Spanien gekauft, die Eleganz war seine eigene: Der amerikanische Schriftsteller William Gaddis bei seinem letzten Deutschland-Besuch 1997 in Köln Bild: Barbara Klemm
Satiriker, Aufklärer und Schöpfer riesiger Textsysteme: Vor hundert Jahren wurde der amerikanische Schriftsteller William Gaddis geboren.
Was bleibt von einem schwierigen, öffentlichkeitsscheuen Schriftsteller wie William Gaddis, der kaum jemals von seinen Romanen leben konnte und im Dezember 1998 kurz vor seinem 76. Geburtstag in Long Island starb? Die Bücher natürlich, sofern sie noch Interesse wecken, Titel wie „Die Fälschung der Welt“ (1955), „J R“ (1975) oder „Letzte Instanz“ (1994); die Erinnerung an eine allmählich weit zurückliegende zweite Jahrhunderthälfte, als manche Vertreter einer stolzen Avantgarde der Literatur noch alles zutrauten und viele Jahre an ein einziges Werk wandten; und der nostalgische Gedanke an ein Lesepublikum, das bereit war, über ein paar Lektürewochen hinweg einer komplizierten, weit verzweigten Romanhandlung zu folgen, weil die unausgesprochene Annahme galt, große Literatur besitze die Fähigkeit, das Wesentliche über ihre Epoche auszudrücken.
Dazu gehören etwa die auf tausend Seiten ausgebreitete Idee einer Fake-Moderne in dem enzyklopädischen Roman „Die Fälschung der Welt“, der bei seinem Erscheinen vor bald siebzig Jahren entweder verrissen oder ignoriert wurde; der heißgelaufene Superkapitalismus in der hochkomischen Finanzsatire „J R“; oder die Absurditäten des amerikanischen Rechtssystems in „Letzte Instanz“. Manchmal wurde Gaddis gefragt, für wen er sich beim Schreiben überhaupt solche Mühe mache. Da zitierte er, der heute vor hundert Jahren geboren wurde, den englischen Schriftsteller Samuel Butler mit einem Satz, der über viele Jahrzehnte zu seinen Maximen gehörte: Er schreibe, damit er im Alter etwas zu lesen habe.
Nach und nach hat aber auch diesen amerikanischen Einsiedler die akademische Welt eingeholt. Die Website „The Gaddis Annotations“ etwa liefert nützliche Resümees seiner labyrinthischen Plots und Erläuterungen zu seinem Werk. In der Washington University in St. Louis liegt sein Nachlass, der Aufschluss darüber gibt, wie der Autor seine Riesenromane komponiert hat und dass die Notwendigkeit des Gelderwerbs – als Scriptwriter von Lehrfilmen oder als Redenschreiber für die pharmazeutische Industrie – nicht nur eine Bürde war, sondern Gaddis auch privilegierten Einblick in das Funktionieren kunstferner gesellschaftlicher Systeme verschaffte. Niemand hat das Universum der Börsenzocker im Netz so scharfsinnig vorweggenommen wie er, niemand die Herrschaft der Anwälte in den USA mit so komischem Effekt dargestellt.
Der Autor sollte unsichtbar sein
Seit einigen Jahren kann man auf Youtube die Schnipsel seiner öffentlichen Auftritte sehen, oft in lausiger Tonqualität, doch immerhin ist aus diesen Mitschnitten zu hören, wie Gaddis sprach, wenn er sich einmal dem Publikum zeigte: in sorgfältigen Formulierungen, mit demselben satirischen Witz seiner Bücher und einem aus tiefster Kehle kommenden Kichern eines neuenglischen Gentlemans. Wer den Kern von Gaddis’ künstlerischer Persönlichkeit verstehen will, braucht sich nur an einen einzigen englischen Satz zu halten: „I seem to belong to the vanishing breed of authors who think a writer should be read, not heard, let alone be seen.“ Kurz: Der Autor sollte unsichtbar sein und seine Bücher für sich sprechen lassen. Was wollen die Menschen vom Künstler, was das Werk ihnen nicht geben würde? Diese Frage stellt Wyatt Gwyon, der Protagonist des Romans „Die Fälschung der Welt“ (The Recognitions), in echter Verzweiflung. Was, so der junge Bilderfälscher weiter, sei der Künstler anderes als der Bodensatz seines Werks?
Die postume amerikanische Ausgabe von Gaddis’ Briefen im Jahr 2013 hat die knappen biographischen Informationen über diesen Großen der amerikanischen Literatur erheblich erweitert. Deutsche Verlage – Zweitausendeins und Rowohlt – sowie die deutsche Literaturkritik hatten entscheidenden Anteil daran, dass Gaddis spät im Leben noch einmal so etwas wie ein Triumph gelang: In Deutschland wurde er in den Neunzigerjahren gelesen und gefeiert.
Als er 1997 schwer erkrankt nach Köln kam und sich in einer ausverkauften Veranstaltung bestaunen ließ, hatte er auch den Gehstock dabei, den er ein halbes Jahrhundert zuvor als junger, mittelloser Dandy in Spanien gekauft hatte. Sein Staunen darüber, dass sein deutscher Verlag sein Konterfei auf große Plastiktüten mit der Aufschrift „William Gaddis bei Zweitausendeins“ drucken ließ, war so groß, dass er später um Zusendung weiterer Tüten bat, um seinen ungläubigen Freunden in Amerika den physischen Beweis zu liefern: Der schärfste literarische Kritiker des Kapitalismus war, zumindest für eine kurze Zeit, im Herzen der Konsumwelt angekommen.