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Unsere literarische Epoche : Ichzeit

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Sieht Autoren mit ihrem Körper, ihrer Seele, ihrem Leben für ihre Werke bürgen: Maxim Biller

Sieht Autoren mit ihrem Körper, ihrer Seele, ihrem Leben für ihre Werke bürgen: Maxim Biller Bild: ZB

Die besten Romane der vergangenen fünfundzwanzig Jahre verbindet mehr als ihre Qualität: über die Epoche, in der wir schreiben.

          9 Min.

          Wir - Leser, Schriftsteller, Kritiker - leben, lesen und schreiben schon lange in einer literarischen Epoche und wissen es nicht. Vielleicht ahnen wir es, wenn wir nach der Lektüre von Tellkamps „Turm“ oder Herrndorfs „Tschick“ denken, das war ein schönes, komplexes Erlebnis, das war noch besser als eine Folge von „Breaking Bad“ oder „Boardwalk Empire“. Und vielleicht war Jakob Arjouni selbst am meisten von der weisen Heiterkeit seines „Magic Hoffmann“ überrascht oder Robert Schindel von der decameronehaften Figurenvielfalt von „Gebürtig“. Aber dass die besten Romane der letzten fünfundzwanzig Jahre mehr verbindet als ihre Qualität, kam, glaube ich, noch keinem von uns in den Sinn.

          Angefangen hat es mit „Irre“ von Rainald Goetz, dem Roman eines Psychiaters, der durchs Schreiben dem Wahnsinn entfliehen will, aber bloß noch viel näherkommt. Der Einzige von denen, die mit Literatur professionell zu tun haben, der damals das Buch nicht gehasst hat, war Marcel Reich-Ranicki. Er sagte, nachdem Goetz im Sommer 1982 beim Bachmann-Preis in Klagenfurt daraus vorgelesen hatte: „Selten habe ich einen Text gehört, in dem so viel Leben wäre. Ich bin dafür.“ Dabei hat es ihn nicht interessiert, dass er selbst einer von denen war, die Goetz in seinem - für Klagenfurt modifizierten - Romanauszug in die Hölle schickte. Und dass Goetz sich während der Lesung selbst verletzte und ihm danach höflich mit blutüberströmtem Gesicht zuhörte, kommentierte er nur, indem er ebenso höflich sagte: „Mit diesem Protest gegen das literarische Leben entlarvt sich Rainald Goetz als ein typischer Literat.“

          Keine Zweit für nichtssagende Ironie

          Marcel Reich-Ranicki hatte recht. Allerdings war dieser Literat anders als die anderen vor ihm. Er erklärte zwar auch - wie es immer wieder passiert und passieren muss -, dass die Bücher, Sätze und Gedanken seiner Vorgänger schlecht und leer seien. Aber gleichzeitig wagte er etwas unerhört Neues. Er stellte seine ganze verletzende und verletzliche Person stolz ins grelle öffentliche Licht. Er zeigte, wie ein irrer Aktionskünstler oder verzweifelter Popstar, dass es für ihn keinen Unterschied gibt zwischen seinem Leben und seinem Werk.

          Er bedeutete allen, die Bücher brauchen, durch einen kleinen Klingenschnitt: Ihr müsst und könnt glauben, was ich schreibe, denn ich bürge mit meinem Körper, mit meiner Seele, mit meinem Leben dafür. Und darum vergesst die lahmen und moralisierenden Phrasen der Gruppe 47, verliert keine Zeit mehr mit der nichtssagenden postmodernen Ironie. Die Literatur braucht wieder ein starkes, glaubhaftes, mitreißendes, suggestives Erzähler-Ich, das stärkste, das es je gab - sonst hört ihr uns, die tief empfindenden Dichter und Denker, im immer lauter werdenden Medienlärm nicht mehr.

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