Schreibende Frauen : Argumente gegen die gute Seele im Haus
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Die Schriftstellerin und Aktivistin Tillie Olsen Bild: Wikipedia/CC BY-SA 4.0
Tillie Olsen hat die unterdrückten Stimmen in der Literatur mit Präzision und Schärfe beschrieben. Endlich kann man ihre Kurzgeschichten und Essays in deutscher Sprache lesen.
Es gibt die Bücher, die nie entstehen, obwohl sie dringend benötigt werden. Und es gibt Bücher, die einem so spät unterkommen, dass man sich fragt, wie das denn möglich ist. Man kann froh sein, dass Tillie Olsen das eine verhindert und das letzte erreicht hat, wenn auch im Fall der deutschen Ausgaben ihrer Texte beinahe fünfzehn Jahre nach ihrem Tod – und damit unbeschreiblich spät.
Olsen, aus russisch-jüdischer Familie stammend, war neunzehn und ohne Schulabschluss, als sie schwanger wurde und über fünfzig, als 1961 ihre vier Kurzgeschichten erschienen – nach vier Kindern, der Suche nach Arbeit und nach deren Vater, der es „nicht länger ertragen konnte“, die Armut zu teilen, wie er in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte. Es war die Zeit der Depression, vor der staatlichen Fürsorge und den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Olsen schreibt davon in „Ich steh hier und bügle“, und dieser Satz, die ersten Worte ihrer ersten Kurzgeschichte, ist der Schlüssel zu ihrem Werk.
Kleine poetische Sozialstudien
Es sind Geschichten von drei Generationen einer Familie, kleine poetische Sozialstudien. Diese Bilder: Wie die Erzählerin nach Hause rennt vom Bus zur Wohnung, in der ihr Kind liegt, weil es ihr auf jede vertane Minute ankommt. Wie der Trinker Whitey zurückkommt in „He, Seemann, wohin die Fahrt?“ und noch ein letztes Mal bei der Familie klopft, die immer für ihn da war, seine Unruhe, und wie er merkt, dass es für einen wie ihn in ihrer Welt keinen Platz mehr gibt, „alle drinnen, jeder in seinem Schuhkarton von Haus, vorm flackernden Fernseher“. Und Abschied nimmt.
Oder wie die kranke Frau, die nach acht Kindern nicht mehr unter Menschen gehen will, über die unerträgliche Energie ihres Mannes „mit seinen beredten Geschichten“ denkt: „Essig hat er sein Leben lang über mich geträufelt. Ich bin gut mariniert. Wie kann ich jetzt Honig sein?“ Und wie sie auf einmal die Enge eines Frauendaseins im Alter versteht, weil doch ein Leben mit Kindern alles aufsaugt. Was bleibt noch danach? Das Leben „zusammengeschrumpft wie ein Sarg“ und „überall ungenutztes Leben“.
Womit Olsen nach Jahren akribischer Teilzeit-Schreibarbeit neben Jobs, Familie und ihrem Einsatz für die Frauenbewegung zeigte, dass das, was mit dem Muttersein, dem weiblichen Körper, dem Häuslichen und seiner unerschöpflichen Arbeit zu tun hat, natürlich Teil der Literatur ist – und das große Ganze, das Politische, in ihm steckt. Es liegt eine Zärtlichkeit in ihrer Sprache, in den Beobachtungen für die Nuancen im menschlichen Zusammensein, seiner Unzulänglichkeit, eine magische Gabe der Beobachtung und hoher Anspruch: Soviel zur Ästhetik des Politischen.
Essays mit dem Ton von einer, die nichts zu verlieren hat
Danach hielt Tillie Olsen Vorträge, bekam Stipendien. Ihre Essays, die unter dem Titel „Was fehlt – Unterdrückte Stimmen in der Literatur“, jetzt auf Deutsch erschienen sind, haben den Ton von einer, die nichts zu verlieren hat. Olsen vereint die Erfahrung der schreibenden Frau mit all den Hemmnissen, die Schriftsteller im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert in ihren unproduktiven Phasen beschrieben, von Kafka über Woolf bis Rilke, in Tagebüchern und Briefen, und erklärt so am Kanon die Gründe fürs Schweigen auch derer, die mit ihren Ausgangsbedingungen nie die Möglichkeit dazu haben, deren Biographien nicht in Geschichten eingehen. Den Vortrag „Das Schweigen der Literatur“ hielt sie 1962, das war, im Hinblick auf seine aufwühlenden Worte, faszinierend früh.