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Autor Dieter Kühn gestorben : In weiter Ferne, so nah

Die andere Möglichkeit immer im Blick: Dieter Kühn (1935 bis 2015) Bild: Juergen Bauer

Er bot einen völlig neuen Blick auf das Mittelalter, schrieb aber auch Kinderbücher. Mit Musils Möglichkeitssinn spielte er leichtfüßig und klug alternative Verläufe der Weltgeschichte im Roman durch: Zum Tod von Dieter Kühn.

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          Als Dieter Kühn im Januar 2014 für sein Lebenswerk im Staatstheater Mainz mit der Carl-Zuckmayer-Medaille geehrt wurde, kam es auf der anschließenden Feier am Abend zu einem besonderen Auftritt: Von der Galerie spielte ein Lautenist, daneben stand der Preisträger und trug ein Gedicht vor: „Es kam dazu, dass ich, im Alter von zehn Jahren, / mir ansehn wollte, wie die Welt beschaffen sei. / In Not und Armut, manchem heißen, kalten Land / hab ich gehaust bei Christen, Heiden, Orthodoxen. / Drei Pfennige im Beutel und ein Stückchen Brot, / das nahm ich mit daheim, auf meinem Weg ins Elend.“

          Tilman Spreckelsen
          Redakteur im Feuilleton.

          Das Gedicht – eigentlich ein Lied – schrieb der spätmittelalterliche Dichter Oswald von Wolkenstein, dem Dieter Kühn eine gefeierte Biographie gewidmet hatte, und natürlich stammt auch die vorgetragene Übersetzung von Kühn. Denn nichts im umfangreichen Werk des Autors, das Erzählungen, Hörspiele, Kinderbücher, Romane und Biographien umfasst, erzeugte bei seinen Lesern soviel Resonanz wie die Übersetzungen mittelhochdeutscher Klassiker – manchmal sehr zum Leidwesen Kühns, der seine übrigen Bücher im Schatten seiner Mittelalter-Auslegungen sah.

          Diese aber waren, als sie, beginnend 1977 mit „Ich Wolkenstein“, nach und nach erschienen, tatsächlich eine literarische Sensation, weil sie einen völlig neuen Zugang zum Mittelalter eröffneten: Kühns Übersetzungen etwa von Wolframs „Parzival“ oder Gottfrieds „Tristan“ sind leichtfüßig und klug, sie nehmen sich Freiheiten, sind ihrer Vorlage gegenüber aber insgesamt erstaunlich getreu bis in Details hinein. Und sie bringen das Kunststück fertig, die in den alten Texten aufgehobene Welt in ihrer Fremdheit zu belassen und sie uns gleichzeitig nahe zu bringen: Wie durch eine blank geputzte Glasscheibe blicken wir in ein Mittelalter, das literarisch geschaffen und zugleich in der Realität jener Zeit wurzelt. Beiden Aspekten sind Kühns Übertragungen, für die er vielfache Ehrungen erhielt, verpflichtet. Und einem dritten: Wie kaum ein anderer, der aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt, warb dieser Autor um das Verständnis und die Teilnahme seiner Leser.

          Biographie: Ein Spiel

          Natürlich trug Kühn an jenem Abend in Mainz nicht zufällig gerade dieses Lied vor, das von „Not und Armut“ eines Zehnjährigen erzählt, von Orientierungslosigkeit und dem Gefühl, ein Spielball rauher Zeitläufte zu sein. Dieter Kühn, geboren 1935 in Köln, erlebte das Kriegsende und den ewigen Hunger der Nachkriegszeit im ländlichen Bayern. Vier Jahre später übersiedelte die Familie nach Düren, Kühn studierte Germanistik und wurde mit einer Arbeit über Robert Musil promoviert. Von der Beschäftigung mit Musils berühmtem „Möglichkeitssinn“ zeugt dann auch derjenige Teil seines Werks, der einer, wie Kühn es nennt, „kontrafaktischen Geschichtsschreibung“ verpflichtet ist: der Beschreibung alternativer Verläufe historischer Ereignisse wie etwa Georg Elsers Attentat auf Adolf Hitler am 8. November 1939 – was, wenn Elser Erfolg gehabt hätte? Am beeindruckendsten spielt Kühn das in seinem ersten Roman „N“ durch. Napoleons Aufstieg ist dort das Ergebnis einer Reihe von Zufällen, die nach und nach in Frage gestellt werden, worauf dann der historisch verbürgte Lebensweg in eine Vielfalt von Alternativversionen aufgespalten wird. Am Ende ist selbst die Zeugung des späteren Eroberers eine unsichere Sache. Und Kühn rechnet vor, was der Welt in diesem Fall erspart geblieben wäre.

          Vor kurzem,  zu seinem achtzigsten Geburtstag am 1. Februar dieses Jahres, legte Kühn den Band „Die siebte Woge“ vor, ein bunter Strauß von nicht verwirklichten literarischen Plänen, aufgegebenen, vielleicht auch nur aufgeschobenen Projekten. Was der emsige Arbeiter, der bis zuletzt mit großer Energie an mehreren literarischen Projekten saß, davon noch verwirklichen konnte, wird sich zeigen. Am Samstag ist Dieter Kühn in Brühl gestorben.

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