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Roman von Ocean Vuong : Die Regeln sind in uns

Ocean Vuong wurde für sein Romandebüt mit Lob überhäuft. Bild: Guardian / eyevine

In seinem Romandebüt „Auf Erden sind wir kurz grandios“ beschreibt Ocean Vuong in aller Brutalität, was Sprache Menschen geben und nehmen kann. Und wie er Rettung in den Sätzen toter weißer Männer fand.

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          Die Transformation fängt, wenn man der Geschichte hier glauben darf, an der Fleischtheke an. In einem Supermarkt in Hartford, Connecticut. Die Mutter will Ochsenschwanz kaufen, um Bún bò Hu zu kochen, Rindersuppe für eine kalte Winterwoche. In der Vitrine findet sie keinen, also versucht sie, den Mann hinter der Theke zu fragen. Sie kann kein Englisch, und weil ihr die Worte fehlen, wird sie zur Kuh: Ihre Zeigefinger hält sie ins Kreuz, mit der anderen Hand deutet sie ein Paar Hörner an, dann dreht sie sich im Kreis und gibt Muh-Laute von sich, die Großmutter stimmt mit ein. Auch der Junge weiß nicht, was Ochsenschwanz auf Englisch heißt, so muss er der erniedrigenden Aufführung zuschauen. Deshalb entscheidet auch er sich an diesem Tag der Scham, ein anderer zu werden: „In jener Nacht schwor ich mir, dass ich nie wieder stumm sein würde, wenn es nötig wäre, dass ich für dich spreche. So begann meine Karriere als offizieller Familiendolmetscher. Von da an füllte ich unsere Lücken, unser Schweigen, Stottern, wann immer ich konnte. Ich wechselte fließend zwischen den Sprachen. Ich zog unsere Sprache aus und trug mein Englisch wie eine Maske, damit andere mein Gesicht – und damit deins – sehen konnten.“

          Harald Staun
          Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Little Dog heißt der Junge in „Auf Erden sind wir kurz grandios“, aber man macht nicht viel falsch, wenn man seine Geschichte als die seines Autors Ocean Vuong liest. In den Vereinigten Staaten wurde der 30-jährige Vuong für sein Romandebüt mit Lob überhäuft, auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe verneigen sich Kollegen, die sonst mit Blurbs eher zurückhaltend sind: Saša Stanišić, Édouard Louis, Ben Lerner (der einer seiner Lehrer im Creative-Writing-Seminar am Brooklyn College war). Schon in seinem Gedichtband „Night Sky with Exit Wounds“ verarbeitete Vuong seine Geschichte zu harter, zündender Poesie und gewann damit jede Menge Lyrikpreise (darunter den renommierten T. S. Eliot Prize). In der erbarmungslosen Verdichtung eines seiner Fragmente klingt seine Biographie so: „An American soldier fucked a Vietnamese farmgirl. Thus my mother exists. Thus I exist. Thus no bombs = no family = no me“.

          So viel Zärtlichkeit und so viel Brutalität

          Nun hat Vuong seine Familiengeschichte zu einem Roman ausgebaut, weil er sich mit den Fragen, die sie behandelten, in einer verbindlicheren Form auseinandersetzen wollte, mit Fragen von Identität und Sexualität, Gewalt und Sprache, nach den Ablagerungen von Generationen von Politik und Geschichte in der persönlichen Biographie. Für Vuong – und Little Dog – beginnt diese Geschichte mit dem Vietnamkrieg, in einer Bar in Saigon, in der ein Bauernsohn aus Virginia 1967 ein fünf Jahre älteres Bauernmädchen aus Go Cong trifft, und weil sie sich beide in der fremden Stadt gleichermaßen verloren fühlen, finden sie einander, heiraten, kriegen Kinder. Und verlieren sich wieder, weil die Vietcong Saigon einnehmen, als Paul, der Soldat, seine Heimat besucht. Und als Lan, seine Frau, mit Tochter Rose und deren Sohn Little Dog im Rahmen eines Umsiedlungsprogramm für Vietnamesen gemischter Herkunft nach Hartford zieht, ist es 1990 – und Paul hat längst ein neues Leben begonnen.

          Als ein Bauernsohn aus Virginia ein fünf Jahre älteres Bauernmädchen aus Go Cong trifft: Paar in Saigon um 1970.
          Als ein Bauernsohn aus Virginia ein fünf Jahre älteres Bauernmädchen aus Go Cong trifft: Paar in Saigon um 1970. : Bild: Picture-Alliance

          Wie ihn diese Geschichte prägt, der Krieg und die Erinnerungen, die Herkunft und die Entwurzelung, wie er versucht, sie hinter sich zu lassen, herauszufinden und zu erfinden, wer er ist, wie er lernt, sich zu behaupten, gegen diese zwei Frauen, die gleichzeitig so viel Zärtlichkeit und so viel Brutalität in sich tragen, wie er seine Sexualität entdeckt oder vielleicht auch sie ihn – das alles erzählt Vuong in seinem Buch.

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