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Reihe „Mein Fenster zur Welt“ : Jetzt kommen neue Zeiten!

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Zukunftsaussichten: Blick aus dem Fenster von Olga Tokarczuk Bild: privat

Unseren Grenzen geht es jetzt dank Corona wieder sehr gut. Aber die Schlacht um eine neue Wirklichkeit wird bald beginnen. Ein Blick aus meinem Fenster in Breslau.

          4 Min.

          Aus meinem Fenster sehe ich eine Weiße Maulbeere, einen Baum, der mich fasziniert; er war einer der Gründe, warum ich hier eingezogen bin. Der Maulbeerbaum ist ein freigiebiges Gewächs: den ganzen Frühling und den ganzen Sommer über ernährt er Dutzende Vogelfamilien mit seinen süßen, gesunden Früchten. Jetzt aber trägt der Baum keine Blätter; so sehe ich ein ruhiges Stück Straße, die nur selten jemand entlanggeht, um in den Park zu gelangen. Das Wetter ist in Breslau fast sommerlich, die Sonne blendet, der Himmel ist blau und die Luft ist rein. Heute sah ich, als ich mit meinem Hund spazieren ging, wie zwei Elstern eine Eule von ihrem Nest vertrieben. Die Eule und ich, wir sahen uns aus kaum einem Meter Entfernung in die Augen. Mir scheint, auch die Tiere warten auf das, was auf uns zukommt.

          Ich hatte schon seit längerem zu viel Welt um mich herum. Zu viel, zu schnell, zu laut. Daher habe ich jetzt kein „Trauma der Isolation“; ich leide nicht darunter, dass ich mich nicht mit Menschen treffe. Ich bedauere nicht, dass die Kinos geschlossen sind, es ist mir gleichgültig, dass die Shopping-Malls außer Betrieb sind. Es sei denn, ich denke an all jene, die dort jetzt ihren Arbeitsplatz verloren haben. Als ich von der präventiven Quarantäne hörte, verspürte ich eine Art von Erleichterung, und ich weiß, dass viele ähnlich empfinden, auch wenn sie sich dessen schämen. So hat meine Introversion, die lange unter dem Diktat hyperaktiver Extrovertierter gelitten hatte, ja fast erstickt worden war, den Staub abgeschüttelt und ist aus dem Keller hervorgekommen.

          Durch das Fenster sehe ich meinen Nachbarn, einen überarbeiteten Juristen. Bis vor kurzem sah ich ihn immer morgens, wie er mit der Robe über dem Arm ins Gericht fuhr. Jetzt steht er in einem sackförmigen Trainingsanzug im Garten und müht sich mit einem Ast; offenbar will er aufräumen. Ich sehe ein junges Paar, wie es seinen alten Hund ausführt, der seit dem letzten Winter kaum noch laufen kann. Der Hund schwankt hin und her, und die jungen Menschen begleiten ihn geduldig und gehen so langsam wie möglich. Derweil holt die Müllabfuhr mit großem Lärm den Müll ab. Das Leben geht weiter, na klar doch, aber in einem ganz anderen Takt. Ich habe den Schrank aufgeräumt und die gelesenen Zeitungen zum Papiercontainer gebracht. Ich habe die Blumen umgetopft. Ich habe das Fahrrad von der Reparatur abgeholt. Freude bereitet mir das Kochen.

          Die Welt vor dem Virus war nicht normal

          Immer wieder tauchen Bilder aus der Kindheit in mir auf, als es viel mehr Zeit gab und man sie „verschwenden“ durfte, indem man stundenlang aus dem Fenster schaute, die Ameisen beobachtete, unter dem Tisch lag und sich vorstellte, er sei eine Arche. Oder indem man die Enzyklopädie las. Ist es nicht so, dass wir zum normalen Lebensrhythmus zurückgekehrt sind? Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war? Schließlich hat das Virus uns ins Gedächtnis gerufen, was wir so leidenschaftlich verdrängt hatten: dass wir fragile Wesen sind, gebaut aus der zartesten Materie. Dass wir sterben, dass wir sterblich sind. Dass wir von der Welt nicht durch unser „Menschentum“ und unsere Außergewöhnlichkeit geschieden sind, sondern dass die Welt eine Art großes Netz ist, in dem wir hängen, mit anderen Wesen durch unsichtbare Fäden von Abhängigkeit und Einfluss verknüpft. Dass wir voneinander abhängig sind und dass wir – ganz gleich, aus wie fernen Ländern wir stammen, welche Sprache wir sprechen und welches unsere Hautfarbe ist – genauso krank werden, genauso Angst haben und genauso sterben.

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