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Alternativer Büchner-Preis : Geheimnisse

  • Aktualisiert am

Der Alternative Büchner-Literaturpreis geht an den Schriftsteller Wolf Wondratschek. Bild: Andreas Pein

In Wien wurde zum ersten Mal der Alternative Büchner-Literaturpreis vergeben. Hier steht die Rede des Preisträgers Wolf Wondratschek.

          10 Min.

          Liebe Freunde,

          meine Damen und Herren, dass ich diesen Raum als Träger eines literarischen Preises verlassen werde, hat hohe Anteile an Einmaligkeit. Nicht viel in einem langen Leben hat die Auszeichnung, einmalig zu sein, verdient. Die erste Liebe (ohne Sex), der erste Sex (ohne Liebe), zum ersten Mal stehen geblieben, um einem Vogel zuzuhören, der singt, zum ersten Mal Bob Dylan gehört, zum ersten Mal Pot geraucht, die Extras in meinem Gehirn entdeckt. Den bisher höchsten Anteil an Einmaligkeit hatte der Tag der Geburt meines Sohnes. Seiner Existenz verdanke ich die Erkenntnis, dass ich sterblich bin. Und die Sache, die das Leben ist, auch ohne mich weitergehen wird, bevor dann in 1,4 Millionen Jahren endgültig auch für ihn Schluss ist.

          Gut, dass wir noch Zeit haben bis dahin. Und ich noch Zeit, das Preisgeld auf den Kopf zu hauen. Es kommt von einem Mann, der mich einmal mit einem Satz überraschte, der auch hohe Anteile an Einmaligkeit hat. „Die Hälfte meines Vermögens gehört den Dichtern.“ Da bleibt auch einem Optimisten die Spucke weg. Der Satz eines Poeten. Und die andere Hälfte, wollte ich wissen? Das gefällt mir an Ihnen, sagte er, dass Sie darauf keine Antwort erwarten. Und noch etwas gefällt mir an Ihnen. Ihre Gedichte. Erzählen Sie mir mehr davon.

          Genau das will ich jetzt tun.

          „In Wirklichkeit“, schreibt Marcel Proust, „ist die Poesie etwas Geheimes.“Vom Geheimnis spricht auch Wassily Kandinsky: „In jedem Bild“ – und wir können ruhig ergänzen, auch in jedem Gedicht – „ist geheimnisvoll ein ganzes Leben eingeschlossen, ein ganzes Leben mit vielen Qualen, Zweifeln, Stunden der Begeisterung und des Lichts.“ Die nächste Wortmeldung kommt – um unsere Erdumrundung fortzusetzen – aus Argentinien. In einem seiner Vorträge, die er in Harvard gehalten hat, teilte Jorge Luis Borges seinem Publikum Folgendes mit: „Während ich etwas schreibe, versuche ich nicht, es zu verstehen. Ich glaube nicht, dass Intelligenz viel mit der Arbeit eines Schriftstellers zu tun hat.“ Fügen wir unseren Zeugen für die Sache, auf die ich hinaus will, noch einen Iren hinzu, den schweigsamen Samuel Beckett. Als der von einem Journalisten gefragt wurde, welche seiner Texte er besonders schätze, antwortete er: „die, die ich nicht verstehe“. Er hätte auch die Weisen der Wüsten zitieren können: Hör auf zu reden, hör auf zu denken, und es gibt nichts, was du nicht verstehst. Es läuft am Ende auf das Gleiche hinaus. Es gibt ein Verstehen, dass das, was der gemeine Verstand unter ,Verständlichkeit‘ versteht, weit hinter sich lässt.

          Revanche für das Geschenk eines Preises

          Es wäre schön, wenn ich mich, der ich heute das Geschenk eines Preises entgegennehmen darf, meinerseits mit einem Geschenk revanchieren könnte, der Aufforderung, auf nicht leicht zu Verstehendes, die Grenze zum Unverständlichen Streifendes oder diese Grenze Ignorierendes nicht wie auf ein unzumutbares Ärgernis zu reagieren. Suchen Sie nicht, wenn Sie lesen, nach dem, was Sie verstehen, zeigen Sie dem nur Verständlichen die kalte Schulter, sagen Sie ruhig: „Kenn’ ich schon, tut mir leid!“ Frauen in Romanen sagen zu Männern manchmal so schöne Sachen wie: „Setzen Sie mich in Erstaunen!“

          Die Zuhörer seiner Vorlesungen in Harvard jedenfalls staunten nicht schlecht, als Borges ihnen das Gedicht eines vergessenen bolivianischen Dichters vortrug und mit geradezu jubelnder Begeisterung gestand, nichts zu verstehen. Die Übersetzung aus dem Spanischen würde in etwa so lauten:

          „Imaginäre Pilgertaube, die du die letzten Liebschaften entzündest, Seele aus Licht, aus Musik und aus Blumen, imaginäre Pilgertaube.“

          Borges schaute mit allem Mitleid in den blinden Augen

          Borges schaute mit allem Mitleid in den blinden Augen in den Hörsaal. „Wenn Sie sie nicht verstehen, mögen Sie sich mit dem Gedanken trösten, dass ich sie auch nicht verstehe und dass sie keine Bedeutung haben. Sie sind auf eine ganz wunderschöne Art bedeutungslos; sie sollen auch nichts bedeuten . . . und dennoch bestehen sie. Sie bestehen als etwas Schönes. Sie sind – zumindest für mich – unerschöpflich.“

          Sich seiner Kindheit in Buenos Aires erinnernd, der Bibliothek seines Vaters und der ersten eigenen Gedichte, derer sich zu schämen er zeitlebens nicht müde wurde, spricht er dann von der Offenbarung, in die auch ich meine Hoffnung setze: „Als die Tatsache, dass Dichtung, Sprache, nicht nur ein Mittel der Verständigung ist, sondern auch eine Leidenschaft und eine Freude sein kann – als mir dies offenbart wurde, habe ich, glaube ich, nicht die Worte verstanden, sondern gespürt, dass etwas mit mir geschah. Und zwar geschah es nicht meiner bloßen Intelligenz, sondern meinem ganzen Wesen, meinem Fleisch und Blut.“

          Borges zitiert den großen amerikanischen Dichter Walt Whitman, einen Satz, worin er feststellt, dass er die Nachtluft, die wenigen großen Sterne viel überzeugender fände als bloße Argumente. Auch für ihn sei das Angedeutete weit wirkungsmächtiger als das Ausgesprochene. Dann kommt Borges, wo er über Metaphern spricht, ins Schwärmen angesichts der verborgenen, geheimen Komplexität einer Zeile wie „She walks in beauty, like the night“. „Am Anfang haben wir eine schöne Frau, dann wird uns gesagt, dass sie in Schönheit wandelt – und mit der Nacht verglichen wird. Aber um die Zeile zu verstehen, müssen wir uns auch die Nacht als Frau denken; ohne das ist die Zeile sinnlos. In diesen ganz einfachen Wörtern haben wir also eine doppelte Metapher: Eine Frau wird mit der Nacht verglichen, aber die Nacht wird mit einer Frau verglichen.“

          „Ich weiß nicht – und es kümmert mich auch nicht“

          Und für das, was Borges dann seinen Studenten mitteilt, muss man ihn einfach lieben: „Ich weiß nicht – und es kümmert mich auch nicht“, sagt er, „ob Byron dies wusste. Ich glaube, wenn er es gewusst hätte, wäre der Vers nicht so gut, wie er ist.“

          Der Poet ist der Musiker unter den Schriftstellern. Er ist der, dem die Geheimnisse des Gefühls kostbarer sind als die Wahrheiten des Verstandes. Gedichte sind keine zu lösenden Rätsel. „Mit jedem Tag“, lesen wir bei Marcel Proust, „messe ich dem Verstand weniger Bedeutung zu. Mit jedem Tag wird mir bewusster, dass der Schriftsteller nur außerhalb von ihm etwas von unseren vergangenen Eindrücken wieder erfassen, das heißt zu etwas von sich selbst gelangen kann und damit zu dem einzigen Stoff der Kunst.“

          Auch wenn ich hier dabei bin, die Aktie des Unverständlichen in der Kunst in die Höhe zu treiben, wenn ich – was auch Liebende, wenn sie die Kinderkrankheiten hinter sich haben, einfordern sollten – Verzauberung statt Verständlichkeit will, Geheimnis statt Klartext, so verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wenn ich jemanden nach dem Weg frage, will ich verstehen, was er sagt. Ich will, dass mich der Gemüsehändler versteht und er mir, wenn ich Kartoffeln verlange, die auch einpackt, und nicht Erdbeeren. Verständlichkeit hat ihre Vorteile. Ich will kein Missverständnis zwischen Cockpit und Tower, mit mir in der Maschine. Ich will auch keinen Chirurgen, der mich unterm Messer und im Kopf Gedichte hat, womöglich in seiner Freizeit selbst welche schreibt. Überhaupt sind mir die meisten Leser von Gedichten suspekt. Ich traue ihnen einfach nicht die Großzügigkeit zu, auf Glück aus zu sein. Wie gut es sich auch versteckt, man kann es finden – in der Stille, zwischen den Zeilen, in der Aufmerksamkeit auf ein inneres, die Gewohnheiten des Denkens auslöschendes Hören.

          Man sollte die Erzieher erziehen

          Man sollte die Erzieher erziehen, die Eltern, die Lehrer, in unserem Fall die Lehrer für die eigene Sprache, ihrer Schriftsteller und Dichter. Sie sollten lernen, für Entlastung zu sorgen. Ein Spaziergang in einen Wald, eine Übung. Stellt euch hin, bleibt, wo ihr steht, stehen. Man müsste ihnen nicht einmal sagen, still zu sein, weil sie es plötzlich werden, jeder nach Gemüt. Wer sich wundert, was das denn nun soll, sucht Verbündete. Über allem liegt eine Besonderheit und, was unseren Burschen betrifft, den, der sich wundert, eine schöne Scham. Bald stört keiner den anderen. Auch ein Deutschlehrer stört jetzt nicht. Es gibt für das, was sie da aufgefordert wurden zu tun, keine Routine. Deutschunterricht unter blauem Himmel. Die Bäume noch nicht zu Papier verarbeitet. Alles lebendig wieder, was einmal gelebt und geliebt hat, auch das, was unsere Augen zu sehen verlernt haben. Nicht gleich alles wissen wollen. Nicht gleich wissen wollen, was das, was in Büchern gedruckt steht, bedeutet.

          Was bedeutet ein Streichquartett Schuberts? Was bedeutet Wohlklang? Two red roses across the moon. Zwei rote Rosen quer über dem Mond. Oder eine erste Gedichtzeile wie: Gelassen stieg die Nacht an Land. Lassen Lehrer zu, Schüler sich in diesen Satz verlieben zu lassen? Wie unbekannt ist die Einsicht, dass Interpretation allen Zauber stört – und zerstört? Wer ein Gedicht nicht versteht, hat vielleicht höhere Einsichten. Es hat ihm die Sprache verschlagen beim magischen Aufleuchten des Unverständlichen. Wie wäre es damit, die Fähigkeit fördern, sich beunruhigen zu lassen? Nicht alles verstehen müssen, es nicht einmal wollen. Sich vom nicht leicht Verständlichen, vom Schwierigen, vom Kontemplativen, von Sprache, die in der Dunkelheit aufleuchtet, anrühren lassen, warum sollte das keine gute Note geben? Oder einen aufmunternden Klaps vom Papa? Der Junge hat’s kapiert. Er liest das Zeug, sagt, dass er nichts versteht, und strahlt mich an. Er ist vor Ergriffenheit wie weggetreten. Eine Zeile in einem Gedicht, ein Vers nur. Gott steh ihm bei, denkt er, als er vor dem Einschlafen an seinen Sohn denkt. Seine Frau schlägt vor, auf den Jungen stolz zu sein. „Oder sollen wir einen Idioten großziehen?“

          Es gibt auf dem Weg in die Dunkelheit keine Grenze

          Es gibt auf dem Weg in die Dunkelheit keine Grenze. Auch keine auf dem Weg in die Sprache. Dichter waren einmal Propheten. Sie hatten Heiliges anzubieten. Unzufriedenheit mit dem nicht auf Anhieb Verständlichen war fehl am Platz. Es kam darauf an, Geschenke anzunehmen. Ein Gedicht annehmen, das vom Fluch des Bedeutens befreit ist. Ich verstehe nichts mehr, also bin ich. Und dabei Glück empfinden.

          Mir begegnete vor vielen Jahren ein Mann, der meine Dienste als Dichter erbat. Er hatte ein für einen Mann seines Alters eher gewöhnliches Problem. Er suchte die richtige Frau zum Heiraten, landete aber immer wieder bei Frauen, die er sexuell attraktiv und deshalb unwiderstehlich fand. Was zu einem betriebsamen Dahinleben führte, also eigentlich zu nichts. Er litt zunehmend unter Unruhe, einem irgendwie schlechten Gewissen, dass ihn nicht das Richtige reizte, sondern das Reizvolle, mädchenhafte Brüste, schmale Pobacken. Immer mehr beunruhigte ihn auch, dass in der Stadt, wie ihm nicht entgangen ist, bereits über ihn und seine Vorlieben gesprochen wurde, weil er kaum je mit der gleichen Frau in Restaurants, in der Oper oder auf Vernissagen zu sehen war, und das oft im Verlauf einer einzigen Woche, und dass ungünstige Winde davon etwas in die kleine Stadt in den Bergen tragen könnte, wo seine Mutter wohnte, eine hochbetagte Dame, ungeduldig wartend, dass er heiraten wird.

          Zeichen, Magie, Offenbarung

          Was für seine Intelligenz sprach, war, sich an einen Dichter zu wenden – und nicht einen Therapeuten zu konsultieren. Er wollte den Fluch loswerden, glauben zu müssen, in einer Ehe, also mit nur einer Person, nicht auf seine Kosten kommen zu können. Wer, wenn nicht die Dichter, waren für die Liebe zuständig, für die unbekannte, die unsterbliche Geliebte?

          Ich glaube nicht, dass ihn die Liebe zur Dichtung dazu getrieben hat – er las keine Gedichte, sondern sammelte Kunst, und davon verstand er auch was –, sondern ein uralter Glaube an den fruchtbaren Kontakt mit dem, was Sprache einmal war: Zeichen, Magie, Offenbarung. Anders gesagt: mit dem Schöpferischen. Der Mann war also, was ihn interessant machte, kein Dummkopf. Wie ich hielt er, ohne es vielleicht zu wissen, die Idee für wahr, dass Wörter als Magie begannen und durch die Dichtung wieder zu Magie werden. Da er zu Recht in mir keinen sah, der mit ihm das gleiche Problem teilte, gewann ich in seinen Augen an Autorität. Er setzte bald mehr Hoffnung in mich, als mir lieb war.

          Da dachte ich wieder an Borges – an seine Begeisterung, seine Zweifel, seinen Humor und sein Glück, das ihn schützt vor der Banalität des bloß Verständlichen. Im Glück ist alles Bekannte zugunsten des Unbekannten eliminiert. Dann kann geschehen, dass das Unbekannte beginnt, magnetisch zu wirken. Tatsachen haben ausgespielt. Bis auf weiteres sind wir unsterblich. Wir sind dabei, das Recht zurückzuerobern, eine Seele haben zu wollen.

          Ein kurzes Gedicht, das ich sehr liebe

          Ich stellte dem Mann, der auf meine Hilfe setzte, das Rezept aus, das, als es vollendet war, die Form eines Gedichts hatte. Als er es gelesen hatte, wieder und wieder, wie er mir schrieb, „hatte ich begriffen, spät, aber nicht zu spät hatte ich begriffen. Ein Wunder. Ein paar Sätze nur auf Papier.“ Ein Wunder? Nein! Ich glaube nicht an Wunder, aber an das Licht in Gedichten, daran glaube ich. Der Mann hat bald darauf Glück. Er ist der für ihn richtigen Frau begegnet und seit vielen Jahren glücklich mit ihr verheiratet. Noch ein Glück. Er hat eine Frau erwischt, die ihrerseits zum Glücklichsein begabt ist.

          Ich möchte Ihnen nun doch eines meiner Gedichte vorlesen, ein kurzes Gedicht, das ich sehr liebe, von dem ich aber nicht sagen kann, dass ich es verstehe, nicht alles jedenfalls, die Hälfte vielleicht, wobei ich nicht zu sagen wüsste, wo die Hälfte beginnt und wo sie endet, wo sie sich mit der anderen Hälfte zu vermischen beginnt. Aber vielleicht liebe ich diese Zeilen gerade deshalb. Ich bin der Autor, ich habe es geschrieben, aber es gehört mir nicht. Und das ist seltsam. Es könnte von jemandem sein, den ich bewundere, weil er diesen Vers zu Papier gebracht hat. Also kann ich nicht der Autor sein. Und doch bin ich es. Auch das nicht leicht zu verstehen.

          Hier das Gedicht, das keinen Titel hat:

          Wie gut ich immer schlief,

          während dein Herz sich noch abmühte

          mit Träumen, in denen du nie älter warst

          als das liebste meiner Geheimnisse.

          Und nun stellen Sie sich vor, dieses Gedicht wird in hektographierten Blättern den Schülern eines Gymnasiums – und das morgens um zehn – auf die Pulte gelegt, um sich damit interpretatorisch herumschlagen zu müssen. Kein Wunder, dass aus keinem von ihnen ein Leser von Gedichten und in Folge davon ein Genießer von Gedichten wird.

          Für immer verlorene Generation

          Für immer verlorene Generationen von Lesern! Da steht er, der Baum der Erkenntnis. Auf einem seiner Äste sehe ich mich sitzen, vierzehn Jahre jung, erfüllt von wilder, rücksichtsloser Wonne. Ich sitze immer noch da, zu alt, um den Abstieg zu wagen. Wohin außerdem? Aus der tiefen Emotion wilder, rücksichtsloser Wonne heraus habe ich mit fünfzehn die Schule geschmissen, meine Eltern und die Polizei, die mich dann suchen ging, abgeschüttelt und mich nach Paris durchgeschlagen. Neue Anschrift: Unter den Seine-Brücken.

          Ich erzähle das nur deshalb, weil ich ein Buch dabei hatte, die „Cantos“ von Ezra Pound, so mit das Schwierigste, was die Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts zu bieten hat. Ich trug es immer bei mir. Ich hielt es fest wie andere den Beutel mit dem Geld und dem Personalausweis. Sein Verlust hätte mich in einer Stadt, die ich nicht kannte, noch orientierungsloser gemacht. Ich las in den „Cantos“, verstand kaum etwas, was mich aber nicht beunruhigte, im Gegenteil, mir gefiel diese Geheimschrift, in der nur da und dort unruhig etwas aufblitzte, was ich zu verstehen glaubte, was ich in der Nacht oder morgen, wenn ich die Seiten wieder aufschlug, verstehen würde – was zur Folge hatte, dass ich, um mir die Freude nicht zu verderben, mit dem Lesen nie aufhören konnte.

          Das Lesen in den „Cantos“ besänftigte mich

          Keine Ahnung, wes Geistes Kind ich war. Keine Lust, es herausfinden zu wollen. Was ich weiß: Das Lesen in den „Cantos“ besänftigte mich. Ich war mit mir, der las, allein. Ich fühlte nicht die Verantwortung, das Geschriebene untersuchen, interpretieren oder sonst wie deuten zu müssen. Ich war, auch das weiß ich, fasziniert von etwas Größerem. Ich zweifelte keine Minute an der Wichtigkeit dessen, was ich da erlebte. Trotzdem blieb ich ein Schüler, ich hatte mich nur für andere Lehrer und einen anderen Lehrplan entschieden.

          Wie eine Stadt wie Paris auf einen Fünfzehnjährigen wirken kann, und das in den sechziger Jahren, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Das Paris der Boheme, der Existenzialisten, der Zwiebelsuppe, die ich mir zusammenbettelte. Die Stadt eines ersten – an meiner Schüchternheit scheiternden Verliebtseins. Junge Amerikaner, die in den Cafes saßen und nicht Hemingway, sondern Hermann Hesse lasen. Und nachts, Schulter an Schulter mit all den anderen Entlaufenen, unter den Brücken. Ich wollte nie mehr schlafen müssen. Ich war darauf gefasst, dass ein Leben, das diesen Namen verdient, kurz sein müsse.

          Es fühlt sich gut an, in vielem Unrecht gehabt zu haben

          Der Fünfzehnjährige steht heute als Vierundsiebzigjähriger vor Ihnen. Es fühlt sich gut an, in vielem Unrecht gehabt zu haben. Man kann Unrecht haben, ohne einen Fehler gemacht zu haben. Man braucht nicht unbedingt ein Buch mit Gedichten aufzuschlagen. Liebe zum Beispiel – sie ist, behaupte ich, nein, weiß ich, ohne Poesie unmöglich. Es ist wie in der Dichtung, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wenn sich Wesentliches von Nebensächlichem trennt.

          Du kennst das Gedicht, Helmut, mit dessen letzter Strophe ich schließen will. Es steht am Ende jener kleinen Rede, die ich geschrieben und für dich gehalten habe, in der ich von unserem Kennenlernen im Flugzeug erzählt habe, Flug Paris–Wien, lange her. Du hast den Wirtschaftsteil der F.A.Z. sinken lassen, um mir zuzuhören, wie ich zu dir von der Liebe, den Frauen der Welt und der Poesie des Todes sprach.

          „Sollte ich sterben, schau,

          so wünsch’ ich mir von dir,

          dass du mit den Zöpfen deines

          schwarzen Haars

          mir die Hände bindest.“

          Wolf Wondratschek

          Der Schriftsteller und Dichter Wolf Wondratschek lebt in Wien. Viele seiner Werke sind bei dtv erhältlich.

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