Rachel Cusks „Lebenswerk“ : Madame Bovary ist auch nur eine schlechte Mutter
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Die Verkörperung der schlechten Mutter, die weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen will: Mia Wasikowska als Madame Bovary. Bild: Picture-Alliance
Müssen Frauen mit der Geburt eines Kindes ihre frühere Identität preisgeben? Eine zurückgelassene Hülle, allumfassende Müdigkeit und Isolation: Rachel Cusks einflussreiches „Lebenswerk“.
Eine Hebammenweisheit besagt, dass Säuglinge bis in den dritten Lebensmonat hinein physiologisch gesehen Frühgeburten sind. Weil die Evolution den Menschen zum aufrecht gehenden Wesen bestimmte, kommen Kinder aus Platzgründen zu früh auf die Welt und müssen sich allmählich und in einem oft von Tränen begleiteten Prozess an das Erdendasein gewöhnen. Weswegen besonders die ersten zwölf Wochen im Leben eines jungen Menschen und von dessen Eltern einen permanenten Ausnahmezustand bilden.
Rachel Cusk, die spätestens seit ihrer Roman-Trilogie „Outline“, „Transit“ und „Kudos“ als grande dame der britischen „New Sincerity“, einer neuen unverstellten Ernsthaftigkeit im literarischen Schreiben, gilt, hat vor beinahe zwanzig Jahren über diesen kontinuierlichen Krisenzustand und die „tiefgreifende Koordinatenverschiebung“ der ersten Monate geschrieben. Dass „Lebenswerk – Über das Mutterwerden“ nun übersetzt vorliegt, spricht nicht nur dafür, dass Cusk auch hierzulande als kanonische Stimme der Gegenwartsprosa gilt. Es heißt auch: Die Erzählung vom Abgrund aus Sorge und Wehmut, der sich eröffnet, wenn ein neues Leben beginnt, ist von bleibender Bedeutung.
Deprivation vom Leben in seiner bekannten Form
„Lebenswerk“ wird in der Übersetzung als Roman geführt, ist richtigerweise aber ein Essay mit zahlreichen autobiographischen Belegen. Anders als es der Titel suggeriert, ist das unter schmerzhafter Selbstentblößung berichtende Ich in diesem Buch eine erfolgreiche Schriftstellerin, die die Vollendung ihres Daseins nicht in der Elternschaft sieht. Sie ist gesellig, schätzt ihre Freundschaften und regen intellektuellen Austausch. Dennoch bleibt sie mit ihrer neugeborenen, häufig laut schreienden Tochter zu Hause. Damit ist die Handlung des Buches umrissen, noch nichts jedoch über den Zustand der leidvollen Isolation gesagt, der hier regiert.
Die Deprivation vom Leben in seiner bekannten Form bekommt bei Cusk neben einer psychischen auch eine physische Dimension. Der postnatale Körper der jungen Mutter fühlt sich an wie eine zurückgelassene Hülle, „aufgebrochen“, „ausgeräumt“ und „vernäht“. Zu dem kommt eine allumfassende Müdigkeit, bedingt durch die zehrenden, bis ins Morgengrauen andauernden Schreiphasen des Kindes. Eine Müdigkeit, die als körperlicher Schock empfunden wird, der die Geistestätigkeit aushebelt: „Nicht zu schlafen bedeutet, dem Schaffensdrang keine Ruhe zu gönnen und in einer ewig sich ausdehnenden Sphäre der Aktivität gefangen zu sein.“
Nicht nur die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben scheint unmöglich. Auch das Dasein der Mutter hat sich gespalten in einen Zustand davor und einen danach. Davor rangierten Freundschaften und Selbstfürsorge weit oben auf der Liste der Notwendigkeiten. Mit der Geburt hat sich jede Selbstbezogenheit als „lebenslange Eitelkeit“ enttarnt und ist ebenso prekär geworden wie schon zur Schwangerschaft die Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit.
Zwangsläufig verkümmert auch Cusks Geschlechtsidentität zu einem mütterlich-weiblichen Stereotyp der Häuslichkeit. Galt ihr das Frausein bisher als oberflächliches Merkmal, als „etwas Künstliches, ein Endlager des Kosmetischen“, so erweist es sich nun als „beengte, vor langer Zeit aufgestellte und liebevoll ausgestattete Falle, in die ich versehentlich gelaufen bin und aus der es nun kein Entkommen mehr gibt“. Hier liest sich deutlich heraus, dass „Lebenswerk“ ein Buch ist, das sich aus zugespitzten, einander scheinbar ausschließenden Dichotomien speist: Mobilität und Isolation, Männlichkeit und Weiblichkeit, Kind und Kinderlosigkeit und letztlich auch Seele und Körper.