Ernst Tugendhat gestorben : Seitliche Relativierung des eigenen Daseins
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Ernst Tugendhat in Tübingen Bild: dpa
Mit Heidegger fing er an, aber da las er schon die lakonischen Amerikaner. Seine Arbeit zeigt, dass nüchternes Argumentieren eine Lebensform sein kann. Zum Tod des Philosophen Ernst Tugendhat.
„Sei allem Abschied voran“ – einer seiner Vorträge behandelte vor zwanzig Jahren unter dem Rilke-Motto „Unsere Angst vor dem Tod“. Dieser Titel, schickte Ernst Tugendhat voraus, impliziere, dass der Vortragende sie auch habe. Nicht als Angst vor der Sterblichkeit, denn das sei eine Eigenschaft, Angst könne man aber nur vor einem Ereignis haben. Zurückgetreten sei inzwischen die Angst vor einem Gericht, das nach dem Tod über einen gehalten werde. Heute trete demgegenüber die Angst vor dem Nichts hervor. Denn der Tod ist kein Abschied, kein Verlust, bei dem derjenigen, der ihn erleidet, noch bestehen bleibt. Die Angst vor dem Tod sei in den biologischen Bedingungen des menschlichen Lebens verankert, das ein sorgendes, in die Zukunft gerichtetes Leben ist. Das Weiterlebenwollen gehört zur Art, die Übel des Lebens müssten immens sein, um keine Angst vor dem Aufhören zu haben. Zugleich habe es im Sterben keine biologische Funktion mehr, sich an das Leben zu klammern, was erklären könne, dass viele den Tod gelassen hinnehmen.
Wer wissen möchte, wie Ernst Tugendhat dachte, sollte sich auf Youtube diesen Vortrag aus der Münchner Carl Friedrich von Siemens Stiftung anhören, der über den Tod ohne jedweden Bezug auf Religion handelt. Wir hören dort einen Philosophen, den die eingefahrene Unterscheidung zwischen kontinentaler und anglo-amerikanischer analytischer Philosophie, aus der seither so viel gemacht wird, nicht interessiert. Er argumentierte oft ganz unterminologisch, das Interesse an der Alltagssprache war eines an den alltäglichen Einstellungen.
Mit Bezug auf Henrich und Theunissen
1976 hat Ernst Tugendhat eine große Einführung in die sprachanalytische Philosophie vorgelegt, ohne sich einem Jargon hinzugeben und ohne die Verbindungen zur europäischen Tradition zu kappen. Das gilt auch für seine, sehr kritisch mit dem Subjektivitätsdenken umgehende Untersuchung „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“ von 1979. Stets waren seine Bezugspunkte die Arbeiten von Kollegen wie Dieter Henrich und Michael Theunissen, mit denen er zunächst in Heidelberg, mit Theunissen von 1980 bis 1992 auch an der Freien Universität Berlin lehrte. Zuvor hatte er am von Jürgen Habermas geleiteten Starnberger Max-Planck-Institut gearbeitet.
Ernst Tugendhat wurde 1930 in Brünn geboren und wuchs als Sohn von Textilfabrikanten in einer von Mies van der Rohe gebauten Villa auf. 1938 emigrierte die jüdische Familie über die Schweiz nach Venezuela. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkam, zog es ihn zunächst in den Umkreis von Martin Heidegger. Ihm und Edmund Husserl galt seine Tübinger Habilitationsschrift von 1965, die sich mit der Frage beschäftigte, was „Wahrheit“ heißen soll.
Tugendhats Stil, sie zu erörtern, war schon von den Lektüren amerikanischer Texte geprägt, in denen es weniger um „Lichtung“ und „Unverborgenheit“ ging als um lapidare Aussagen des Typs: „Die Aussage, ‚Schnee ist weiß‘ ist genau dann wahr, wenn Schnee weiß ist“. Wer den Begriff der Wahrheit gebraucht, lässt sich ihm zufolge, kurz gefasst, auf die Begründungsbedürftigkeit von Aussagen und auf eine entsprechende Lebensform nüchterner, phrasenfeindlicher Argumentation ein. Im Münchner Vortrag über den Tod fällt der Satz, bei Heidegger hätten Begründungen nur eine geringe Rolle gespielt. Wahrheit ist für Tugendhat also zuletzt ein praktischer mehr denn ein theoretischer Begriff. Oder anders formuliert: Theorie ist eine Praxis.
Folgerichtig veröffentlichte Ernst Tugendhat viel zu ethischen Fragen, während er sich politisch in der Friedensbewegung der Achtzigerjahre engagierte. Die Unterscheidung von „eigentlichem“ und „uneigentlichem“ Leben sei die nach dem Freiheitsspielraum, den man in verengter und erweiterter, zerstreuter oder zentrierter Lebensführung habe. Der Ausblick auf den Tod mache diese Unterscheidung plausibel. Denn relativ zur Welt sei man unwichtig, es gehe im Tod gar nicht „meine“ Welt zu Ende, denn auch die weiterbestehende, die objektive Welt sei ja zu Teilen meine. Das beseitigt zwar nicht die Angst, aber es relativiert den Schrecken, relativiert ihn „seitlich“, wie Tugendhat es nannte. Diese Selbstrelativierung sei kein Argument mehr, sondern ein Schritt. Am 13. März 2023 ist Ernst Tugendhat im Alter von 93 Jahren in Freiburg gestorben.